Magdalena, ich muss mit dir reden


Magdalena, ich muss mit dir reden… Ich habe eine Frage an dich.
Du kannst mich nicht hören, sagst du, du seiest zu weit entfernt?
Ja, ich gebe zu, du befindest dich sehr weit weg von mir, du bist mir gewissermassen weit voraus. Aber gerade deshalb möchte ich dich ja sprechen. Ich hoffe so sehr, dass du meine Frage beantworten kannst.
Du sagst, es dauere noch viele Jahre, bis du überhaupt reden kannst?
Du hast recht, schließlich bist du ja noch nicht geboren.
Aber deine Mutter, sie lebt schon. Nun gut, sie ist noch klein, sie kann gerade mal laufen, sprechen kann sie auch noch nicht viel. Aber sie ist schon da – eine wichtige Voraussetzung für Dich. Maria heißt sie. Sie lacht unentwegt und ist kugelrund, weil sie so gerne isst. Alles an ihr ist wohlgenährt und sie fühlt sich wohl in unserer Welt, sehr wohl.
Du fragst, wer ich bin?
Ich bin Marias Großvater, und du, Magdalena, bist ihre Tochter, meine Urenkelin.
Woher ich von dir weiss?
Nun, ich denke es mir so. Ich stelle mir vor, dass du in fünfundzwanzig Jahren geboren wirst, wenn deine Mutter Maria etwa im gleichen Alter ist wie jetzt ihre Mutter, meine Tochter Petra, deine Großmutter.
Warum ich Dich denn jetzt schon sprechen möchte, fragst du?
Weil du, wenn du neunzig wirst wie meine Mutter, deine Ururgroßmutter, weil du dann in einhundert Jahren noch leben wirst. In einhundert Jahren! Genau das ist der Grund, warum ich mit Dir reden möchte, Magdalena. Ich möchte dich fragen, was in einhundert Jahren bei uns, verzeih bei euch, los sein wird.
Du sagst, ich brauche doch nur in meine eigene Vergangenheit zurückzuschauen, um wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, was in Zukunft sein wird?
Tut mir leid, Magdalena, da muss ich dir widersprechen. Was vor einhundert Jahren war, das wissen wir heute. Aber hätten wir damals auch nur ahnen können, was heute ist? Vor hundert Jahren gab es kein Auto, kein Telefon, kein Radio, kein Fernsehen, keine Atombomben und die beiden Weltkriege auch noch nicht. All das hätte niemand vorhersehen können, nicht einmal ungefähr. Vom Ozonloch, vom Klimawandel und all den anderen Schrecklichkeiten, die heute in unserer Welt fast Alltag sind, mal ganz abgesehen.
Was meinst du? Weil du noch nicht existierst, könntest du auch nichts über die Menschen sagen, weil sie ja noch nicht geboren sind?
Danach will ich dich auch nicht fragen, was mit den Menschen dann geschehen sein wird, mit unseren Hoffnungen und Träumen, mit der Luft, die wir atmen, mit dem Wasser, das wir trinken, und den Fischen, die darin schwimmen. Und ob wir nachts die Nachtigall singen hören und am Tag in der Sonne liegen können.
Warum ich dich denn sprechen möchte, fragst du?

Liebe Magdalene, da ist etwas anderes, das mich noch mehr beschäftigt. Es ist etwas Unvorhersehbares – und doch Voraussagbares. Ja, sogar Vorausberechenbares.
Ob es so etwas überhaupt geben könne, fragst du?
Ja, es ist ein Gesetz, dessen Auswirkungen mir Angst machen.
Du verstehst nicht, was ich meine, fragst du? Gesetze seien doch zum Schutze der Menschen da und nicht, um ihnen Angst zu machen?
Da hast du natürlich recht. Nun ja, es ist auch kein richtiges Gesetz, kein juristisches, es ist ein mathematisches Gesetz. Zunächst habe ich den Zusammenhang gar nicht gesehen, aber dann hat er mich nicht mehr losgelassen.

Es fing ganz harmlos damit an, dass mir der Vertreter einer Bank vorrechnete, wie schnell sich ein Kapital vermehrt, wenn es im Jahr mit drei oder vier Prozent verzinst wird.
Alle zwanzig Jahre, sagte er, verdoppele sich dann der ursprüngliche Betrag. Hätte mein Vater, so rechnete er mir vor, bei meiner Geburt 10 000 Euro auf ein Sparkonto gezahlt, besäße ich heute, mit sechzig Jahren, bereits 80 000 Mark! Warum? Weil es sich in dieser Zeit dreimal verdoppelt hätte. In weiteren zwanzig Jahren, rechnete er weiter, seien es 160 000 Euro und nochmal zwanzig Jahre später würde ich meiner Enkelin, also dir, ein Vermögen von sage und schreibe 320 000 Euro vererben. Das alles, ohne auch nur einen einzigen Euro dazuzulegen.
Das sei die enorme Wirkung der Verzinsung, sagte er. Wenn etwas mit drei bis vier Prozent verzinst wird, erhöhe sich ein Kapitalbetrag nach fünfmaliger Verdoppelung, in hundert Jahren also, immer um das Zweiunddreissigfache.
Da staunst du, nicht wahr?
Seine Augen leuchteten geradezu, als er mich fragte, wie viel ich denn für meine Enkelin bereit sei anzulegen.
Ich gebe zu, Magdalena, das hat mich beeindruckt. Zweiunddreißig mal mehr. Das käme alles dir und deinen Kindern zugute.
Ob ich nur deswegen mit dir reden wollte, fragst du, das sei doch alles nur Statistik?
Nein, deswegen nicht. Worum es mir geht, das kommt erst noch. Es ist etwas anderes. Und doch auch irgendwie das gleiche.
Ich habe nämlich eine Entdeckung gemacht. Die Entdeckung bestand darin, dass ich dem gleichen Prozentsatz noch einmal begegnet bin, diesmal allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang.
Ich las in der Zeitung, es sei die erklärte Absicht der Bundesregierung, ein Wirtschaftswachstum von jährlich drei bis vier Prozent anzustreben. Nur so, hiess es in der Verlautbarung, könne die Wirtschaft langfristig stabil gehalten und die Arbeitslosigkeit verringert werden.
Merkst du, worauf ich hinaus will? Da sind sie wieder, diese drei bis vier Prozent.
Ich wurde nachdenklich.
Ich fragte einen Bekannten, der Volkswirtschaft studiert hat, was das denn bedeute, wenn eine Wirtschaft jährlich mit drei bis vier Prozent wachse.
Das sei ganz einfach, sagte er, dann nimmt das Sozialprodukt, also alles was im Land produziert wird, jedes Jahr um diesen Prozentsatz zu.
Und verdoppelt sich alle zwanzig Jahre, fragte ich zurück?
Ja natürlich, das sei so, wenn auch die Zuwächse mitwachsen, was sie ja in der Regel tun.

Liebe Magdalena, verstehst du jetzt, um was es mir geht, worin mein Problem besteht? Das bedeutet doch, wenn das wirklich so ist, dass ihr in einhundert Jahren in einer Wirtschaft lebt, die mehr als dreißigmal so groß ist wie unsere heute, ihr produziert dreißigmal mehr als wir und konsumiert auch dreißigmal mehr als wir.
Das sei mathematisch zwingend, hatte mein Bekannter noch gesagt, daran führe kein Weg vorbei.

Aber Magdalena, stell Dir doch so etwas vor. Dreissigmal mehr Autos, dreissigmal mehr Kühlschränke, dreissigmal mehr Fernseher, mehr Urlaubsreisen, vielleicht auch Strassen, Autobahnen, und was weiß ich noch alles.
Und hieße das nicht auch dreißigmal mehr Rohstoffverbrauch, mehr Energie, Plastikabfall, Müll? Und vielleicht auch dreißigmal mehr Unfälle, Drogen, Alkohol, vielleicht sogar Waffen?
Mein Bekannter, der Volkswirt, hatte nur gelacht, als ich ihn das fragte. Ich solle mich nicht aufregen, das werde sich schon regeln. Die Menschen hätten noch immer jedes Problem geschafft, das sie geschaffen haben.

Magdalena, ich bitte dich, beantworte mir nur diese eine Frage: Werden wir, werdet ihr es schaffen?
Was sagst du? Du könntest nichts sagen, weil du noch nicht geboren bist?
Ich bitte dich trotzdem. Es bedrückt mich. Schau mal, wir beide sind doch schon alt, du achtzig, ich sechzig. Wir haben beide unser Leben gelebt. Was kann uns schon passieren … Wie bitte, was meinst du? Bitte, sprich lauter, ich verstehe dich nicht.
Ich hätte dir Angst gemacht, sagst du? Wieso dir, ich habe Angst – vor meiner Zukunft.
Aber das sei doch deine Gegenwart, sagst du?
Das ist es ja, was mich bedrückt. Meine Zukunft ist deine Gegenwart – und wir bereiten sie vor! Was soll ich denn tun? Sag mir, was können wir tun? Heute, meine ich!
Was sagst du, ich kann dich fast nicht mehr hören.
Wir seien doch weitsichtig, verantwortungsbewusst, lernfähig und alles Mögliche, ansonsten hättest du die Möglichkeit …
Magdalena, sprich lauter … Was meinst du damit … ansonsten hättest du die Möglichkeit …?
Entschuldige, sag’s bitte nochmal, ich habe die letzten Worte nicht verstanden.
Was sagst du? Du meinst, dir bliebe ja immer noch die Möglichkeit … gar nicht erst geboren zu werden?
Magdalena … bitte nicht … !!!

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