Mein Name sei Kyrill … Teil 22 Textbeitrag

Teil 22

Kyrill spricht
Wir müssen Abschied nehmen Schade, wirklich schade. Waren wir nicht ein gutes Paar? Du unten, ich oben… verzeih, das war makaber. Dir geht es nicht gut. Dein Herz schlägt nur noch zögerlich, zu langsam für dein Leben. Und auch in mir lässt der Druck nach. Dem Ende entgegengehen, heisst so etwas, nicht wahr?
Ehe es uns beiden so ergeht, musst du dein Werk zu Ende führen. Es wird gut werden.
Trotz deines unglücklichen Auftritts auf dem Kongress, ich bin fest davon überzeugt, bei deinen Studis wirst du Erfolg haben, sie werden sich deiner Argumentation nicht entziehen. Zumindest die meisten von ihnen. Deine Thesen sind überzeugend, darauf kannst du vertrauen.
Du musst natürlich mit Widerspruch rechnen, mit erheblichem Widerspruch. Es wird einige Mühe machen. Jeder Widerspruch hat auf seine Art Recht. Es kommt auf die Sichtweise an. Und auf die Bereitschaft, über den eigenen Horizont hinaus zu denken. Denn das, was du ihnen zu sagen hast, steht in der Tat in Widerspruch zu allem, was sie zu denken gewohnt sind. Weniger tun, weniger geben und doch mehr bekommen? Das ist gewöhnungsbedürftig, um es vorsichtig auszudrücken.

Vinzenz spricht
Okay, wer sieht die Lösung? Wie könnte es trotzdem gehen, wieder mehr Erträge zu erwirtschaften? wiederholte ich meine Frage mit etwas mehr Nachdruck.
Ich gebe Ihnen eine Hilfe. Denken Sie daran, beim Ertragsgesetz handelt sich nicht um ein Zeitdiagramm, es ist ein ‘Wenn-dann-System’. Auf der Waagerechten ist die Zahl der Bearbeitungen abgetragen und nicht die Zeit, wie man unbewusst, aber irrtümlich annehmen könnte.
Immer noch keine Reaktion.
Ich wies auf einen Kurvenpunkt rechts vom Maximum.
Angenommen, sagte ich, wir befinden uns an diesem Punkt. Dann erwirtschaften wir diesen Ertrag. Ich deutete auf den entsprechenden Punkt auf der Senkrechten. Wo finden wir Kurvenpunkte, die einen höheren Ertrag ausweisen?
Links davon, hörte ich eine Stimme aus einer der hinteren Reihen.
Bravo, rief ich, das nenne ich mitgedacht. Auf allen Kurvenpunkten links davon, und zwar zurück bis zum Maximum.
Ich suchte nach dem Antwortgeber und, als ich ihn verlegen lächelnd entdeckte, fragte ich: Und was ist das Essenzielle all dieser Punkte?
Er überlegte eine Weile, antwortete leise, fast schüchtern: Die Erträge in diesem Bereich werden mit weniger Bearbeitungen erwirtschaftet.
Sagen Sie es ruhig laut, rief ich, und er wiederholte: Die Erträge werden mit weniger Bearbeitungen erwirtschaftet.

So ist’s recht: Befinden wir uns rechts vom Maximum, dort also, wo die Steigerung des Aufwands nur noch zu einer Minderung der Erträge führt, dann lassen sich höhere Erträge nur links davon erzielen, das heisst nichts anderes, wenn wir den Aufwand reduzieren.
Das lässt nur den einen Schluss zu: Wir müssen zurück auf der Ertragskurve!

Ein Weniger führt zu mehr!

Rein ökonomisch gesehen. Ist das nicht frappierend?!
In diesem Augenblick hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören – ein Geräusch hätte sie gemacht wie ein Vorschlaghammer.

In die Stille hinein sagte ich, jedes Wort betonend:

Und das, meine Damen und Herren, ist der Turgoteffekt. So jedenfalls möchte ich ihn nennen.

Kaum hatte ich den Satz zu Ende gesprochen, setzte ein beinahe tumultartiger Lärm ein. Alles redete durcheinander.

Siggi spricht
Ich war, ehrlich gesagt, ziemlich irritiert. Das also war der mit so viel Pomp angekündigte Turgoteffekt. Ein bisschen hatte ich das Gefühl, wie wenn es am Ende eines Krimis heisst, der Gärtner war der Mörder. Es ging mir nicht alleine so.
Das klingt ja fast nach: Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück, hörte ich hinter mir unseren Hörsaalkasper lästern und einige Lacher rechts und links. Das soll’s gewesen sein? zischelte es an anderer Stelle. Wieder andere monierten, das sei doch einfach nur logisch, das wisse man doch auch so, dafür müsse man doch nicht eine ganze Vorlesung …
So ging es hin und her.

Prof Vinz blieb erstaunlich ruhig. Er schien die Reaktion erwartet zu haben. Dass er deswegen bereits auf dem Kongress in Phoenix abgebürstet worden war, er sich also auf eine solche Reaktionen hatte einstellen können, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst am späten Nachmittag, als wir am Lehrstuhl die Sache noch einmal Revue passieren liessen, rückte er mit der Sprache heraus. Es muss ganz schrecklich gewesen sein. Obwohl sein USA-Trip nun schon einige Tage hinter ihm lag, konnte er selbst jetzt seine Emotionen kaum beherrschen. Beinahe hätte er geheult.
‘Kollege Accola, wir haben Sie immer für einen vernünftigen und sachlichen Wissenschaftler gehalten, aber hier verschwenden Sie Ihr Geld und unsere Zeit’, habe einer der Kongressteilnehmer, den er eigentlich geschätzt habe, nach dem Vortrag zu ihm gesagt. ‘Wir sind zwar keine Marktfetischisten, wir halten auch nichts von dem Aberglauben, dass der Markt alles von alleine richten könne. Aber von solchen Untergangsszenarien, wie Sie sie vorgetragen haben, davon halten wir noch viel weniger. Davon sind wir meilenweit entfernt.’

Die hatten überhaupt nichts begriffen, Prof Vinz schrie es fast und ich spürte in diesem Augenblick mehr als sonst, wie sehr ihn das Thema in Anspruch nahm und wie tief er sich verletzt gefühlt haben musste.

Mara spricht
Ich war überrascht. Einmal über die Einfachheit der Lösung. Der Turgoteffekt, jetzt wussten wir, was es damit auf sich hat. Zum anderen über die Reaktion, die er auslöste. Immer wieder hörte ich, das sei doch logisch, darüber müsse man doch nicht so viel Worte machen.
Nun gut sagte ich mir, wenn das so logisch ist, dann frage ich mich, warum niemand in der grossen Politik darüber ein Wort verliert, und warum noch viel weniger irgendjemand danach handelt.
Von einem Halt oder gar einem Zurück, was unsere Wirtschaftsentwicklung anbelangt, war bisher nichts zu vernehmen. Ganz im Gegenteil. Nach der grossen Wirtschaftskrise, in der wir immer noch tiefer drinstecken, als uns lieb sein kann, beherrscht doch nur ein Thema die offizielle Politik: Wie gelangen wir wieder zurück zu mehr Wachstum? So als hätte Wachstum von sich aus die Eigenschaft das einzig Wahre und die Lösung aller Probleme zu sein. Da wäre ich gerne zurückhaltender …Vielleicht ist ja immerwährendes Wachstum Teil des Problems und nicht die Lösung?
Solche und ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als alles um mich herum wie wild durcheinander diskutierte, wenn man das überhaupt noch so nennen konnte. Fehlt nur, dass sie aufeinander einprügeln, dachte ich.

Meine Damen und Herren, hörte ich endlich Prof Vinz, der sich fast vergeblich mühte, das Stimmengewirr zu übertönen, ich verstehe Ihre Reaktion…
Er nahm seine Hin- und Herwanderungen wieder auf, die in der Regel anzeigen, jetzt kommt ein längerer Monolog.

Was sich als Quintessenz aus dem bis hierher Gesagten ableitet, sagte er, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, widerspreche in der Tat so gut wie allem, was wir zu denken gewohnt seien: Erst das eine, die Ursache, dann das andere, die Wirkung. Und immer in die gleiche Richtung: Gebe ich Gas, fährt das Auto schneller. Gebe ich mehr Gas, fährt das Auto noch schneller.
Und das, was wir gerade gehört hätten, klinge doch genau umgekehrt: Nehme ich Gas weg, gebe ich also weniger Gas, dann soll das Auto schneller fahren?
Das gibt’s doch gar nicht, werden Sie denken.

Prof Vinz schaute uns an, ein wenig amüsiert, wie es schien, über die nicht zu übersehende Irritation in unserem Gesichtsausdruck.
Die so denken, hätten natürlich Recht, sagte er, aber nur bezogen auf den gewohnten Normalfall. Das gelte am Beispiel Ertragskurve für alle Stationen bis zum Maximum. Wir aber behandeln den Grenzfall, den speziellen Fall jenseits des Maximums.
Den Fall des Zuviel.
Der uns schon bald zwingen könnte, anders zu denken.
Grundlegend anders, wiederholte er beide Worte betonend.

Er liess das Gesagte im Raum stehen. Fast wie eine Drohung.

Das gilt natürlich nur dann, wenn wir den Verlauf der Turgotschen Kurve als richtig anerkennen. Und wenn wir ausserdem anerkennen, dass der Kurvenverlauf – wenigstens im Prinzip – für alle organischen Systeme gilt – die Erde als Ganzes eingeschlossen.

Das, muss ich sagen, fand ich jetzt wirklich logisch.

Vinzenz spricht
Ich glaube, versuchte ich, in das ausufernde Chaos einzugreifen, es ist Zeit, dass wir an diesem Punkt erst einmal eine Denkpause einlegen. Natürlich nicht in dem Sinne, dass wir aufhören zu denken. Ganz im Gegenteil, wir sollten eine Pause einlegen, um in Ruhe darüber nachzudenken, um was es hier eigentlich geht.
Bis zu einem gewissen Grad ist Ihre Unruhe nachvollziehbar, auch der Wunsch nach Widerspruch, meinetwegen auch nach Ablehnung. Ich sehe ein, das, was ich Ihnen vorgesetzt habe, ist starker Tobak, wenn ich das so salopp sagen darf. Der Gedanke, wir müssten ernsthaft davon ausgehen, unsere Erde mit allem Leben, das sich auf ihr abspielt, könne sich bereits als Ganzes im jenseitigen Bereich des Kurvenmaximums befinden, ist schwer erträglich. Die Welt hätte ein riesiges Problem. Ich glaube, darin wären wir uns alle einig.

Nicht viel angenehmer allerdings ist die Vorstellung, sie stände kurz davor.

Ich ging zurück zum Pult und blätterte ostentativ in meinen Unterlagen, um etwas Abstand zum Gesagten zu gewinnen.
Um die Diskussion übersichtlicher zu gestalten, nahm ich den Faden wieder auf, schlage ich vor, wir zerlegen die Thematik in zwei Teile, in ein Pro und ein Kontra.

Zuerst zum Kontra, dem Widerspruch. Die Kernfrage lautet: Gibt es überhaupt den sich absenkenden Teil des ertragsgesetzlichen Kurvenverlaufs oder steigt die Ertragskurve stetig ohne Ende linear an? Dann gäbe es kein Maximum und auch keinen Turgoteffekt.
Das wäre etwas für die optimistischen Interpreten unter Ihnen.

Und nun zum Pro. Hier gibt es drei Kernfragen.
Erstens: ist der Verlauf der ertragsgesetzlichen Kurve einleuchtend, besser gesagt zwingend, das heisst, strebt sie nach einem Maximum und fällt danach ins Ungewisse ab?
Kernfrage zwei lautet: Was spricht dafür, dass sich dieser Verlauf auch auf die Erde als Ganzes übertragen lässt?
Und drittens: Wenn ja, wo befinden wir uns? Weit vor, kurz vor oder bereits jenseits des Maximums im abschwingenden Teil der Ertragskurve?

Dazu gehört selbstverständlich die Antwort auf Frage: Wie könnte oder wie müsste die Politik, die Gesellschaft, das einzelne Individuum unter dem Eindruck dieser Erkenntnis reagieren?
Das wäre etwas für die kritischen Interpreten unter Ihnen.

Wie auch immer Ihr Urteil ausfällt, eines ist sicher:
Behalten die optimistischen Interpreten Recht (was ich hoffe, aber bezweifle), dann haben wir alle kein Problem. Wir können uns zurücklehnen und so weitermachen wie bisher. Wir müssten nur dafür sorgen, dass es immer schön weiter aufwärts geht.

Behalten die kritischen Interpreten Recht (was ich nicht hoffe), dann haben wir, dann haben Sie und ich, in erster Linie aber unsere künftigen Generationen ein Problem dessen Grössenordnung ich mir nicht einmal auszumalen wage.

Wieder setzte eine heftige Diskussion ein.

Nach einigem Hin und Her gelang es mir, zwei Gruppen aus dem Chaos herauszufiltern, die Argumente für das eine oder das andere erarbeiten sollten.

Bitte Vortrag durch einen Auserwählten in der nächsten Stunde, rief ich in die Unruhe hinein. Die ist übrigens morgen Vormittag schon. Die Marketingvorlesung meines Kollegen fällt aus, er hat mich gebeten, ihn zu vertreten. Insofern haben wir Glück gehabt, Sie können nun ihre Argumente unter dem Eindruck des soeben Gehörten taufrisch zu Papier bringen.

Also, bis morgen früh zur Generaldebatte, rief ich noch hinterher und zog mich an mein Pult zurück. Umständlich, damit es nicht zu schnell geht, ordnete ich meine Unterlagen. Jetzt kam der schwierigere Teil des Tages, den ich mir selbst zuzuschreiben hatte. Mir war nicht wohl zumute. Unauffällig versuchte ich auszumachen, wo sich Nora aufhielt.

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