Mein Name sei Kyrill … Teil 23 Textbeitrag

Mike spricht
Da hockten wir nun in unseren Stühlen und fühlten uns wie pubertierende Söhne nach der Aufklärung durch den Herrn Vater. Jetzt wussten wir endlich, was der Turgoteffekt ist. Toll!

Ich glaube, niemand unter uns sprang vor Begeisterung über Tische und Bänke. Im ersten Moment waren wir konsterniert, im zweiten Moment voller Widerspruch.
Das war denn auch Gegenstand der heftig aufbrodelnden Diskussion, die sofort danach einsetzte. Allerdings machte sich nach der ersten Abkühlung eine gewisse Nachdenklichkeit breit.
Auch mir ging es so, muss ich zugeben. Wenn man den geschwungenen Verlauf des Turgot’schen Ertragsgesetzes tatsächlich auf die Welt als Ganzes übertragen kann, dann, ja dann müsste man wohl oder übel über einige Dinge vertiefter nachdenken. Vor allem über die Frage, bis zu welchem Punkt dieser Kurve wir uns bereits vorgearbeitet haben könnten.

Die alles entscheidende Frage ist aber wohl in erster Linie, gibt es überhaupt eine solche Kurve? Ist tatsächlich vorstellbar, dass sich das Leben auf der Erde nach so einfachen und im Grunde klar erkennbaren Regeln entwickelt? Oder laufen wir Gefahr, uns mit einer solchen Vorstellung verrückt machen zu lassen?
Auf die naheliegende Gefahr hin, mich wieder den üblichen Prügeln auszusetzen, werde ich heute Abend einige Gedanken zu Papier bringen. Egal wie die anderen dazu stehen. Mal sehen, ob dann auch Prof Vinz im Dreieck springt.

Zwei Dinge fielen mir auf, als die Vorlesung zu Ende war. Im Gegensatz zu sonst hatte es Prof Vinz nicht eilig, den Hörsaal zu verlassen. Aber auch Nora machte keine Anstalten, von ihrem Platz aufzustehen.
Ob sie nicht mitkomme, fragte ich sie beim Hinausgehen. Entweder hatte sie mich nicht gehört, oder mich nicht verstanden… sie blieb einfach sitzen. Merkwürdig, murmelte ich, als ich mit den anderen hinausging.

Kyrill spricht
Fühlst du dein Herz? Schlägt es noch? Hör auf seinen Takt! Jeder einzelne ist wichtig. Wie viele der Milliarden Takte, die das Leben sichern, stehen dir noch zur Verfügung? Motiviere dich, motiviere dein Herz, du sollst weiterleben! Deine Lage ist prekär. Wenn du nicht bald gefunden wirst, sieht es nicht gut aus für dich. Meine beiden Buchenbäume haben ganze Arbeit geleistet, du wirst allmählich eins mit deiner geliebten Natur.

Wirklich schade, Bäume haben doch so viel Wertvolles, Friedliches. Vor allem Nützliches. Allein schon, weil sie nichts anderes zu tun haben als da zu stehen, am selben Ort, zur selben Zeit, vom Morgen bis zum Abend und in der Nacht, bei Sonne und Regen, bei Schnee und Eis, die sich nur dann bewegen, wenn ich und meine Geschwister sie bewegen. Sie treiben Blätter, lassen Blüten spriessen, treiben Früchte aus, lassen sie reifen, um sie wieder abzuwerfen.

Dieser wunderbare Lauf, jedes Jahr aufs Neue bis an ihr Lebensende, den einen zur Nahrung, sich selbst zur Erhaltung und Vermehrung, euch zur Freude. Einfach so. Sie sind immer nur da, tun das, was alle Lebewesen tun, da sein, um zu existieren und sich weiterzugeben. Mir scheint ohne Sinn, ohne Zweck, ohne Ziel.
Ohne Zweck ist falsch. Nun ja, wir wissen alle, in welch feinsinniger Weise sie dem Leben dienen. Wir sprachen schon davon. Das haben sie euch voraus, sie sind der relevante Teil des Lebens auf dieser Erde. Ohne sie, ohne ihre helfende Existenz wäret ihr bald am Ende. Namentlich die Bäume sind es, die sich dem gnadenlosen Gesetz der Entropie, dem Zwang zur Auflösung aller Dinge, entgegenstemmen. Sie sichern die Kreisläufe des Lebens, sie zerstören sie nicht.
Und ihr?
Wem spendet ihr Leben?
Welche Kreisläufe sichert ihr?
Glaube mir, auf eure Existenz könnte die Schöpfung problemlos verzichten, auf die der Bäume nicht.

Siggi spricht
Ich bin am Morgen wie üblich einige Minuten vor Veranstaltungsbeginn in unser Lehrstuhlgebäude gegangen, um mit Prof Vinz die Unterlagen für seine Vorlesung zusammenzustellen und in den Hörsaal zu bringen. Der Sturm, der in der Nacht über Europa hinweggebraust war, hatte sich ein wenig beruhigt, fegte aber noch immer mit Intensität über das Fachbereichsgelände. Überall lagen Äste herum, Blätter wirbelten durch die Luft, selbst die Dächer hatten einiges abbekommen.

Ich wartete eine Zeit lang, aber Prof Vinz kam nicht. Also schnappte ich mir seine Tasche und das Vorführgerät, ging die wenigen Schritte zum Nachbargebäude und stieg die Treppe hinauf. Unterwegs stiess ich auf Nora. Sie wirkte nervös. Sie schaute mich kaum an, nickte nur kurz und schlich sich förmlich an mir vorbei in den Hörsaal. Am Hörsaaleingang blieb ich stehen.
Kurz danach tauchte Mike auf. Er sah übernächtigt aus.
Nach und nach trudelten die anderen ein und setzten sich schweigend auf ihre Plätze. Ich stellte das Gerät auf den Tisch und schaltete den Strom ein.

Ungewöhnliche Ruhe trat ein. Ich schaute auf die Uhr. Es war schon über der Zeit. Prof Vinz könnte langsam auftauchen, dachte ich, er ist doch sonst so pünktlich. Ob er vergessen hat, dass er heute eine Vertretungsstunde…?
Wir könnten doch schon mal anfangen, machte einer den Vorschlag. Prof Vinz wird schon noch eintrudeln.
Vielleicht ist ihm heute Nacht ein Baum aufs Haus gefallen und er kann nicht mehr raus, krähte unser Hörsaalkasper.
Hat jemand seine Telefonnummer? Rufen wir ihn doch an.
Niemand wusste seine Nummer, ich auch nicht. Ich sah, wie Nora auf ihrem Platz unruhig hin und her rutschte.

Also gut, sagte ich ohne Begeisterung, fangen wir schon mal an mit der Diskussion. Einige nickten. Ich schlage vor, wir beginnen mit den Kontraargumenten: Was spricht gegen den Kurvenverlauf von Turgot?
Nach der hitzigen Diskussion von gestern klang das, was jetzt einsetzte, sehr matt. Oder lag es daran, weil ich es fragte und nicht Prof Vinz?

Mike spricht
Ich hatte mich am Abend sogleich mit den Kommilitonen meiner Gruppe zusammengesetzt, um gemeinsam ein Papier zu verfassen. Viel war nicht dabei herausgekommen. Ihnen fehlten einfach die Argumente mit der nötigen Durchschlagskraft. Oder hatten sie etwa nicht den Mut, sich gegen die Herrschaftsmeinung unseres Profs zu stellen? Es hatte fast den Eindruck.
Irgendwann wurde es mir zu dumm.
Lasst mal, sagte ich, ich mache das Papier alleine und trage es morgen vor. Ihr könnt noch ein Bierchen trinken gehen. Aber morgen will ich euch im Rücken haben. Mir ist es schon einmal schlecht ergangen, nur weil ich meine eigene Meinung zu sagen wagte. Das möchte ich so nicht mehr erleben.
Erleichtert waren sie abgezogen.

Am Morgen fand ich eine etwas aufgelöste Hörerschaft vor. Ich war spät dran und hastete die Treppe hinauf. Am Hörsaaleingang stiess ich auf Siggi, der auf jemanden zu warten schien. Er stand wie abwesend da und grüsste kaum. Na gut, dachte ich, der Sturm, das Wetter, die frühe Stunde, das verträgt nicht jeder.
Dabei hätte ich mich gar nicht zu beeilen brauchen, Prof Vinz glänzte noch durch Abwesenheit. Unschlüssig hockten wir auf unseren Stühlen.
Es war schon sehr ungewöhnlich, dass Prof Vinz nicht rechtzeitig zu seiner Vorlesung erschien. Er war die Pünktlichkeit in Person. Nur mit dem rechtzeitigen Beenden einer Vorlesung haperte es manchmal.
Als Prof Vinz auch nach einer Viertelstunde immer noch nicht erschien, kam der Vorschlag, doch schon mal mit der Diskussion zu beginnen. Der Einfachheit halber sollte Siggi den Moderator spielen. Was er dann auch sichtlich gerne tat.
Ich hatte mich gleich gemeldet, als er die Kontras aufrief. Mit nervösen Händen fingerte ich mein Papier aus der Jackentasche und faltete es auseinander. Mir wurde ganz warm, als ich es vorzulesen begann.

Nora spricht
Ich vermochte der Diskussion nicht zu folgen, weil … , sie interessierte mich nicht mehr. Ich musste immer nur an Vinzenz denken. Gestern Abend war ich nicht zu ihm gefahren, obwohl ich es selbst vorgeschlagen hatte. Ich konnte einfach nicht. Ihn anrufen hätte ich noch weniger können. Und dann dieses ständige Geklingele, seine Anrufe …, ich war nicht im Stande abzunehmen. Was hätte ich denn sagen sollen?
Die Situation war grotesk. Zuerst dachte ich, als er mich gestern bat, nach der Vorlesung auf ihn zu warten, jetzt will er mir die üblichen Vorwürfe machen. Aber einen Heiratsantrag, einen richtigen, förmlichen Heiratsantrag …, damit hatte ich nicht gerechnet. Das hatte mich umgehauen.
Der hing jetzt wie ein Damoklesschwert über mir.

Liebe Nora, hatte er gesagt und mich mit beiden Händen an den Schultern gefasst, als könnte ich ihm davonlaufen, ich frage dich, willst du meine Frau werden? Sag bitte nur ja oder nein. Sonst nichts.
So geht das doch nicht, war mein erster Gedanke, ohne … einfach so in einem Hörsaal. Fehlte nur noch vor allen Studenten.
Nein, so nicht, wenn es denn überhaupt geht, das war mir ohne langes Überlegen klar. Nein, ich kann nicht seine Frau werden. Man kann sich lieben, man kann immer wieder zu allen möglichen Dingen zusammenkommen, wunderschöne Erlebnisse haben, alles geht, nichts ist unmöglich. Aber es muss auch wieder ein Ende haben. Damit es wieder einen Anfang hat, damit es immer wieder neu beginnen kann. Und jetzt das, ihn heiraten … alles festlegen ….Ich habe ihm gesagt, dass ich heute Abend zu ihm kommen wolle, um mit ihm darüber zu reden. Ich wollte nur weg, weg aus dieser merkwürdigen Situation, fort aus diesem Hörsaal …

Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass Vinzenz eine ganz andere Reaktion erwartet hatte. Ein kurz entschlossenes Nein zum Beispiel. Aber, wie hätte ich das denn machen sollen? Einfach nein sagen, den Kopf schütteln, ihn kurzerhand stehen lassen? Ich fühlte mich wie zwischen zwei Mühlsteinen, die ricke, racke ohne Gnade zu mahlen beginnen.

Und als dann auch noch der Sturm einsetzte … Ich habe Angst vor Stürmen, wie andere Angst vor Hunden haben. Mit Ohrstöpseln habe ich mich ins Bett verkrochen, eine Flasche Wein beseitigt, dem vielen Telefongeklingel getrotzt … dann bin ich tatsächlich eingeschlafen und heute Morgen viel zu spät aufgewacht. Die Würfel waren gefallen. Ich musste nur noch die Begegnung im Hörsaal überstehen – und wir wären wieder frei gewesen, befreit von uns selbst, die wir zu viel von uns verlangt hatten.
Dass er jetzt nicht zur Vorlesung erschien, machte mich völlig fertig. Damit spielt er nicht, das wusste ich. Das war nicht seine Art.
Plötzlich wurde mir klar, es muss etwas passiert sein.
Ich muss zu ihm. Sofort!

Ich brauche deine Autoschlüssel, sagte ich flüsternd zu Mike, der die ganze Zeit furchtbar engagiert neben mir sass und nicht enden wollende Sprüche von sich gab.

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