Roman-Text

Mein Name sei Kyrill oder der Turgoteffekt
Roman von Hartmut Stieger

(Rückblicke Teil 1 bis 24 und Textbeiträge Teil 22 bis 27)

 

Rückblick Teil 1 bis 4
Wir haben Wirtschaftsprofessor Vinzenz Accola kennengelernt, seine Geliebte Nora und seine “Studis” Mike und Siggi.
Und den Sturm, der sich gerne “Kyrill” nennen lassen würde
Während Sturm Kyrill mit zerstörerischer Kraft über das Land fegt, wartet Vinzenz Accola in seinem abgelegenen Wochenendhaus auf Nora. Er wartet den ganzen Abend, die ganze Nacht. Vergeblich!
Als der Morgen graut hält er es nicht mehr aus, er stürzt sich ungeachtet der drohenden Gefahr hinaus ins Freie. Sturm Kyrill leistet ganze Arbeit: Zwei gewaltige Buchen begraben Vinzenz unter sich.
Zwischen Tod und Leben schwebend, erinnert sich Vinzenz an seine unglückliche Liebe zu Nora. Er beklagt bitter, dass er seine Vorlesung über den Turgoteffekt, die ihm so wichtig war, nun nicht mehr zu Ende führen kann.
Die Figuren der Romanhandlung stellen sich vor: Nora erzählt, wie sie an diese Universität gekommen ist und wie sie Vinzenz kennengelernt hat. Ihre Studienkollegen Mike und Siggi berichten, wie sie auf Nora gestossen sind: der eine schmerzhaft aus Anlass einer Ohrfeige, der andere wortwörtlich unter Wasser. Letzteres war erfolgreicher.
Nora hat sich von Vinzenz überreden lassen, an seiner Vorlesung über den Turgoteffekt teilzunehmen. Was sie zu hören bekommt, löst bei ihr alles andere als Begeisterung aus.

Rückblick Teil 5 bis 8
Während Prof. Vinzenz Accola unter den umgestürzten Bäumen zwischen Tod und Leben schwebt, erinnert er sich (in Teil 1 bis 4) an die Begegnung mit Nora, an seine Studis, wie er sie nennt, und an die Ereignisse, die er in seiner Vorlesung über den Turgoteffekt erlebt hat.
Nora hat mitten in der Vorlesung den Hörsaal fluchtartig verlassen, einen konsternierten Prof Vinz zurücklassend.
Sturm Kyrill entwickelt die Idee, dass die dem Menschen innewohnende “Funktionslust”, ihre Freude am Gelingen, der Motor aller menschlichen Übertreibungen sei. Die Idee basiert auf einem berühmten Experiment mit Rhesusaffen, die eine solche Freude am (komplizierten) Öffnen des Schlosses zu einem Kasten mit einem darin befindlichen Köder fanden, dass sie, als es ihnen gelungen war, nur noch Schlösser öffnen wollten und am Köder kein Interesse mehr zeigten.
Durch Zufall treffen Vinzenz und Nora nach einiger Zeit wieder aufeinander. Sie verabreden sich bei ihm zu Hause in seinem Chalet. Daraus entsteht eine überaus heftige Liebesbeziehung.
In seiner Vorlesung, an der jetzt auch wieder Nora teilnimmt, ist Prof Vinz zwischenzeitlich bei der fatalen Wirkung der Effizienz angekommen: Die Effizienz wird zur gnadenlosen Vollstreckerin der Konkurrenz, sobald sie vor allem unter Ausnutzung internationaler Produktions- und Handelsbeziehungen ohne Ende weitergetrieben wird. Am Beispiel eines mit Wasser gefüllten Schwamms demonstriert Prof Vinz anschaulich, worum es ihm geht.
Mike bringt voller Zorn über das Gehörte eine Gegenrede zu Papier, in dem er die Meinung vertritt, dass es allein schon aufgrund der Theorie der “Komparativen Kostenvorteile”, wie sie von Adam Smith und David Ricardo propagiert wurde, gerechtfertigt sei, jeden Preisvorteil, der sich im internationalen Handel bietet, für sich zu nutzen. Gleichgültig, ob es sich um ganze Unternehmen oder um einzelne Individuen handele. Immer bringe es beiden Seiten Vorteile, so die Theorie, die sich in der Praxis längst bestätigt habe.
In der Pianokneipe entbrennt darüber unter den Freunden eine heftige Diskussion.

Rückblick Teil 9 bis 12
Mikes “Gegenrede-Papier” hat in der Pianokneipe, in der sich die Studienfreunde Mike, Siggi, Nora und neuerdings auch Mara gerne treffen, heftige Diskussionen ausgelöst. Das Papier wird förmlich zerrissen. An der Auseinandersetzung um die Auswirkungen weltweiten Effizienzstrebens, das keine Grenzen kennt, beteiligt sich bald das ganze Lokal und mündet in einem wahren Tohuwabohu. Für Nora findet das Ganze ein abruptes Ende, als sie draussen vor dem Fenster das Gesicht von Vinzenz erblickt, der zusehen muss, wie sie gerade von Mike geküsst wird.
In der Vorlesung geht es erst einmal wie gewohnt weiter. Prof Vinz hat eine weitere Einflussgrösse eingeführt, die seit der Industrialisierung, namentlich in den letzten Jahrzehnten, eine höchst problematische Verbindung mit der Effizienz eingegangen ist: die “Externen Kosten”. Das sind die Kosten, die durch Existenz und Arbeitsweise der Unternehmen entstehen, nicht aber von ihnen getragen, sondern auf die Umwelt abgewälzt werden (Ablassen von Abgasen über Schornsteine, Abgabe von CO2 bei Verbrennung von Kohle und Gas etc.)
Mit dem fatalen Zusammenspiel von Effizienz und Externen Kosten, angetrieben von der Konkurrenz, habe sich ein “Trio Infernale” zusammengefunden, das so gut wie für alle Umweltprobleme dieser Welt verantwortlich sei, mit dem Klimawandel an der Spitze, so seine dramatisch zugespitzte Quintessenz.
In der Zwischenzeit bereitet sich Prof Vinz auf den Kongress in den USA vor, auf dem er über den Turgoteffekt referieren soll.
Für seine Studis hat er sich zur Veranschaulichung seiner Thesen eine kleine Geschichte einfallen lassen, die er in der nächsten Vorlesung vorträgt: Eine Fabel über die wahren Gründen für das Aussterben der Dinosaurier.

Rückblick Teil 13 bis 16
Nach der ironisch makabren Fabel über die Gründe für das plötzliche Aussterben der Dinosaurier, die nicht ohne Wirkung auf das Auditorium bleibt, erläutert Prof Accola am Beispiel eines durstigen Wanderers das “Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen”. Der Genuss (und damit auch der Wert von Dingen des täglichen Lebens) ist nicht objektiv bzw. allgemeingültig feststellbar. Er hängt entscheidend davon ab, in welchem Zustand der Sättigung man sich befindet. Mit zunehmender Sättigung verringert sich der Genuss. Um – und das ist das Wichtigste – ab einem bestimmten Punkt der Sättigung ins Gegenteil umzuschlagen: Aus Genuss wird Überdruss!
Das gelte aber nicht für die Kategorien Geld, Gewinn oder Vermögen, so Prof. Accola.
In der folgenden Veranstaltung trägt er den Originaltext der von Jaques Turgot entwickelten These über die Ertragskraft eines Ackers vor, dem eine unterschiedliche Zahl an Bearbeitungen zugeführt wird. Mit wunderbarer Klarsicht hat Turgot bereits vor zweihundertfünfzig Jahren erkannt, dass die Ertragskraft eines Ackers mit steigernder Zahl der Bearbeitungen nicht nur einfach weiter zunimmt, sondern zunächst progressiv (wie wir es heute nennen). Ab einem bestimmten Punkt, wo der Ertrag – relativ zum Aufwand – am höchsten ist (im Ertragsoptimum), nimmt der Ertrag aber nur noch regressiv zu, also mit abnehmenden (aber immer noch positiven) Zuwachsraten.
Geradezu genial seine Erkenntnis, dass es auch einen Punkt gibt, bei dem der Ertrag nicht nur absolut am höchsten ist (im Ertragsmaximum), sondern bei dem bei weiterer Steigerung der Bearbeitungen der erzielte Gesamtertrag rückläufig wird. Die Grenzraten werden negativ!
Im Weiteren geht Prof. Accola auf das bis heute so erfolgreiche Prinzip Konkurrenz ein und in diesem Zusammenhang auf den ihr innewohnenden Drang zum immer grösser Werden.
Der Drang nach Grösse impliziert den Zwang zum Wachstum.
Nicht nur Bäume wachsen, auch der Wald wächst! Nicht nur einzelne Unternehmen wachsen, auch die Volkswirtschaft als Ganzes wächst!
Daraus entsteht das sich widerstreitende Dilemma aus einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Betrachtungs- bzw. Handlungsweise. Die Interessen des Einzelnen stossen sich am Interesse des Gesamten – und umgekehrt.

Sodann demonstriert Prof. Accola am Beispiel des Sozialprodukts Deutschlands, zu welch überraschenden Aussagen eine Wachstumsrate von drei bis vier Prozent (bedeutet Verdoppelung des Sozialprodukts etwa alle zwanzig Jahre) führen kann, wenn man nur konsequent genug weiterrechnet: Von gegenwärtigen 3000 Milliarden Dollar nach vier Verdoppelungen, in achtzig Jahren also, auf unvorstellbare 48000 Milliarden Dollar – ein Ergebnis, das die Kinder seiner Studis noch erleben würden – und zu verkraften hätten!
Geradezu grotesk wirken die Ergebnisse, wenn die gleiche Verdoppelungsrechnung für “chinesische” Verhältnisse von sieben bis zehn Prozent jährliches Wirtschaftswachstum zugrunde gelegt werden (Verdoppelung alle sieben bis zehn Jahre). Sie würde sich im gleichen Zeitraum von achtzig Jahren zu einer Vertausendfachung (!) des aktuellen Sozialprodukts in Höhe von 5000 Dollar hochkatapultieren.
Aber schon in einer Generation, in 25 bis 30 Jahren also, hätte China das gegenwärtige Sozialprodukt des gesamten Erdballs deutlich übertroffen!
Aber was nicht mitwachse, sei die Kapazität der Erde, aus der das alles herausgepresst werden müsse, so am abschliessend beinahe beschwörend Prof. Accola.

Rückblick Teil 17 bis 20
Am Beispiel eines vollbesetzten Kinos referiert Prof Vinzenz Accola über die Widersprüche zwischen dem Einzelinteresse und dem Interesse des Gesamten, die sich aus dem Konkurrenzprinzip ergeben, insbesondere dann, sobald es über alle Sinnhaftigkeit hinaus betrieben wird.
Das Kinobeispiel geht so:
Wenn in einem vollbesetzten Kino ein Zuschauer aufsteht, sieht er besser als alle anderen. Wenn alle aufstehen, sehen wieder alle gleich gut bzw. gleich schlecht, der Vorteil ist nicht nur dahin, es geht allen schlechter, weil sie nun stehen statt sitzen.
Denkt man die Vorteilssuche des Einzelnen konsequent weiter, kommt man zu dem Schluss, dass nun einige auf ihre Stühle zu steigen, um wieder besser sehen zu können. Wenn alle auf die Stühle steigen, ist der Vorteil wieder dahin und alle stehen noch unbequemer.
Die Vorteilssuche ist damit aber noch nicht zu Ende. Um wieder besser sehen zu können, werden jetzt Einzelne versuchen, auf die Schultern der anderen zu klettern … Wenn dies andere ihnen gleichtun und wiederum andere auf deren Schultern klettern usw., entsteht – streng der Logik des Konkurrenzprinzips gehorchend – eine Menschenpyramide, die sich immer höher aufschichtet, ihr Ende schliesslich unsanft an der Decke findet. Die Hierarchisierung der Menschen ist die Folge, die sich in Träger und Getragene spalten.
Wegen eines Schwächeanfalls von Prof. Accola konnte die Frage, wie sich ein solcher Zustand wieder auflösen lässt, nicht mehr angesprochen werden …

Im Gespräch mit Sturm Kyrill erinnert sich Prof Accola an das Desaster auf dem Kongress in Phoenix. Seine amerikanische Kollegen erweisen sich unbeirrt als nicht erreichbar in der Überzeugung von der Unschlagbarkeit des technischen Fortschritts, der alle Probleme, die er schafft, auch wieder selbst zu lösen vermag. Accolas These von der Grenzüberschreitung wird geradezu verrissen. Die technologische Entwicklung werde immer weiter aufwärts gehen. Sie brauche keine Grenzen zu überschreiten, sie schiebe sie einfach vor sich her, so der Tenor ihrer Argumente. Da sei schon immer schon so gewesen und werde immer so bleiben.
Vor so viel einseitiger Fixierung mit Tunnelblick flieht Prof Accola in die Abgeschiedenheit des Grand Canyon, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.
Dort holt ihn die Erinnerung an ein unglückliches Erlebnis aus Jugendtagen ein, das sein Leben stärker beeinflusste, als er sich selbst eingestehen will. Auf einer Radtour mit seinem Freund landet er in einem französisch baskischen Fischerörtchen bei Biarritz. Auf dem dortigen Kirchweihfest ist unter anderem eine Kirmesrotunde aufgebaut, auf der die Dorfjugend und bald auch Vinzenz und sein Freund begeistert herumtoben. Das Ganze ist nicht ungefährlich.
Irgendwann passierte es, die Rotunde lässt sich nicht mehr abstellen, sie läuft schneller und schneller. In Panik versucht sich jeder an jedem festzuhalten. Als Vinzenz spürt, dass sich sein Freund verzweifelt mit beiden Händen an seinen Fuss klammert, um nicht herunterzufliegen, geschieht das Ungeheuerliche. Um
nicht auch noch hinabgerissen zu werden, tritt er so lange mit dem freien Fuss gegen die Hände des Freundes, bis dieser loslässt …

Wieder in seiner Vorlesung erläutert Prof Accola den Kurvenverlauf des Ertragsgesetzes mit Blick auf die Ableitung des Turgoteffekts.
Als erstes wendet er sich dem Wendepunkt zu.
Unterhalb wird die Ertragsentwicklung tendenziell unterschätzt, man wird vom tatsächlich eintretenden Ertrag positiv überrascht.
Oberhalb wir die Ertragsentwicklung tendenziell überschätzt, man wird vom tatsächlich eintretenden Ertrag negativ überrascht.
Von besonderer Bedeutung ist der Maximalpunkt auf dem Höhepunkt der Ertragskurve. Ab dort gibt es keine Ertragssteigerungen mehr, auch wenn noch so viel Arbeit und Ressourcen eingebracht werden. Im Gegenteil, die Erträge werden mit steigendem Einsatz sogar rückläufig!
Es ist nicht auszuschliessen, eher sehr wahrscheinlich, dass wir uns diesem Maximalpunkt bereits gefährlich angenähert haben!

Rückblick Teil 21 bis 24
Prof Accola erläutert bzw. interpretiert den Verlauf des Ertragsgesetzes “rechts” vom Maximalpunkt M. Dort, wo eine Erhöhung der Zahl Bearbeitungen (Input) nicht nur keine Ertragszuwächse mehr bringt, sondern nur noch Ertragseinbussen, stellt sich die Frage, ob und wie dennoch eine Steigerung der Erträge möglich sein könnte.
Die Antwort ist verblüffend: Indem man die Zahl der Bearbeitungen, den Input also, reduziert. Das heisst, man geht auf der Ertragskurve zurück.
Diese paradoxe Auswirkung des “Mehr mit Weniger” sei der Turgoteffekt, so Prof Accola.
Spontan setzt eine turbulente Diskussion ein. Die einen sind irritiert, die anderen finden es nur logisch und nicht der Rede wert. Wieder andere mokieren sich. Dann setzt doch eine gewisse Nachdenklichkeit ein…

Prof Accola bittet seine Studis, zwei Gruppen zu bilden, eine Pro- und eine Kontragruppe, um Argumente zum Für und Wider zu sammeln und sie in der Vertretungsstunde am nächsten Morgen vorzutragen. Dabei sollte es insbesondere auch um die Frag gehen, ob sich der Kurvenverlauf auf die Erde als Ganzes übertragen lässt und – wenn ja – in welchem Bereich dieser Kurve sich die Welt heute befinden könnte.
Am Ende der Stunde bittet er Nora um eine Unterredung, in der er ihr einen förmlichen Heiratsantrag macht. Nora ist konsterniert, sie könne darauf nicht antworten, sagt sie. Sie wolle am Abend zu ihm ins Chalet kommen und mit ihm darüber reden.
In der Nacht fegt Sturm Kyrill mit brachialer Gewalt über das Land.

Am nächsten Morgen versammeln sich die Studis zur von Prof. Accola anberaumten Vertretungsstunde. Er aber erscheint nicht. Sie beschliessen, dennoch mit der Diskussion zum Pro und Kontra zu beginnen. Wie zu erwarten trägt Mike ein fulminantes Kontra vor, das zwar alle beeindruckt, von Mara aber geschickt pariert wird.
Nora, gepeinigt vom schlechten Gewissen, Vinzenz entgegen ihrem Versprechen am gestrigen Abend nicht aufgesucht zu haben, kann der Diskussion nichts abgewinnen.
Plötzlich wird ihr klar, Vinzenz muss etwas zugestossen sein. Sie will sofort zu ihm und bittet Mike um sein Auto. Gemeinsam verlassen sie den Raum und fahren durch die vom nächtlichen Sturm verwüstete Landschaft zu Accolas Chalet.

 

Hinweis:
Da das Movie Maker Programm nach Teil 21 seinen Geist aufgegeben hat, konnten die restlichen Folgen (Teil 22 bis 27) nicht mehr als Video aufgenommen werden. Stattdessen habe ich – nach jeweils einer kurzen Videoansage – nur die zugehörigen Texte ins Netz gestellt. Sie sind im Folgenden wiedergegeben.

 

Teil 22 Textbeitrag

Kyrill spricht
Wir müssen Abschied nehmen Schade, wirklich schade. Waren wir nicht ein gutes Paar? Du unten, ich oben… verzeih, das war makaber. Dir geht es nicht gut. Dein Herz schlägt nur noch zögerlich, zu langsam für dein Leben. Und auch in mir lässt der Druck nach. Dem Ende entgegensehen, heisst so etwas, nicht wahr?
Ehe es uns beiden so ergeht, musst du dein Werk zu Ende führen. Es wird gut werden.
Trotz deines unglücklichen Auftritts auf dem Kongress, ich bin fest davon überzeugt, deine Studis werden sich deiner Argumentation nicht entziehen. Zumindest die meisten von ihnen. Deine Thesen sind überzeugend, darauf kannst du vertrauen.
Du musst natürlich mit Widerspruch rechnen, mit erheblichem Widerspruch. Es wird Mühe machen. Jeder Widerspruch hat auf seine Art Recht. Es kommt auf die Sichtweise an. Und auf die Bereitschaft, über den eigenen Horizont hinaus zu denken. Denn das, was du ihnen zu sagen hast, ist geradezu eine Zumutung, es steht in Widerspruch zu allem, was sie zu denken gewohnt sind. Weniger tun, weniger geben und doch mehr bekommen? Das ist gewöhnungsbedürftig, um es vorsichtig auszudrücken.

Vinzenz spricht
Okay, wer sieht die Lösung? fragte ich. Wie könnte es trotzdem gehen, wieder mehr Erträge zu erwirtschaften? wiederholte ich meine Frage mit etwas mehr Nachdruck.
Ich gebe Ihnen eine Hilfe. Denken Sie daran, beim Ertragsgesetz handelt sich nicht um ein Zeitdiagramm, es ist ein ‘Wenn-dann-System’. Auf der Waagerechten ist die Zahl der Bearbeitungen abgetragen und nicht die Zeit, wie man unbewusst, aber irrtümlich annehmen könnte.
Immer noch keine Reaktion.
Ich wies auf einen Kurvenpunkt rechts vom Maximum.
Angenommen, sagte ich, wir befinden uns an diesem Punkt. Dann erwirtschaften wir diesen Ertrag. Ich deutete auf den entsprechenden Punkt auf der Senkrechten. Wo finden wir Kurvenpunkte, die einen höheren Ertrag ausweisen?
Links davon, hörte ich eine Stimme aus einer der hinteren Reihen.
Bravo, rief ich, das nenne ich mitgedacht. Auf allen Kurvenpunkten links davon, und zwar zurück bis zum Maximum.
Ich suchte nach dem Antwortgeber und, als ich ihn verlegen lächelnd entdeckte, fragte ich: Und was ist das Essenzielle all dieser Punkte?
Er überlegte eine Weile, antwortete leise, fast schüchtern: Die Erträge in diesem Bereich werden mit weniger Bearbeitungen erwirtschaftet.
Sagen Sie es ruhig laut, rief ich, und er wiederholte: Die Erträge werden mit weniger Bearbeitungen erwirtschaftet.
So ist es: Befinden wir uns rechts vom Maximum, dort also, wo die Steigerung des Aufwands nur noch zu einer Minderung der Erträge führt, dann lassen sich höhere Erträge nur links davon erzielen, unter der Voraussetzung also, dass wir den Aufwand reduzieren.
Das lässt nur den einen Schluss zu: Wir müssen zurück auf der Ertragskurve!

Ein Weniger führt zu mehr! Ist das nicht frappierend?!

In diesem Augenblick hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören – ein Geräusch hätte sie gemacht wie ein Vorschlaghammer.
In die Stille hinein sagte ich, jedes Wort betonend: Und das, meine Damen und Herren, ist der Turgoteffekt. So jedenfalls möchte ich ihn nennen.
Kaum hatte ich den Satz zu Ende gesprochen, setzte ein beinahe tumultartiger Lärm ein. Alles redete durcheinander.

Siggi spricht
Ich war verblüfft, um nicht zu sagen konsterniert. Das also war der mit so viel Pomp angekündigte Turgoteffekt. Ein bisschen hatte ich das Gefühl, wie wenn es am Ende eines Krimis heisst, der Gärtner war der Mörder. Es ging mir nicht alleine so.
Das klingt ja fast wie: Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück, hörte ich hinter mir unseren Hörsaalkasper lästern und einige Lacher rechts und links. Das soll’s gewesen sein? zischelte es an anderer Stelle. Wieder andere monierten, das sei doch einfach nur logisch, das wisse man doch auch so, dafür müsse man doch nicht eine ganze Vorlesung …
So ging es hin und her.

Prof Vinz blieb erstaunlich ruhig. Er schien die Reaktion erwartet zu haben. Dass er deswegen bereits auf dem Kongress in Phoenix abgebürstet worden war, er sich also auf eine solche Reaktionen hatte einstellen können, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst am späten Nachmittag, als wir am Lehrstuhl die Sache noch einmal Revue passieren liessen, rückte er mit der Sprache heraus. Es muss ganz schrecklich gewesen sein. Obwohl sein USA-Trip nun schon einige Tage hinter ihm lag, konnte er seine Emotion kaum beherrschen. Beinahe hätte er geheult.
‘Kollege Accola, wir haben Sie immer für einen vernünftigen und sachlichen Wissenschaftler gehalten, aber hier verschwenden Sie Ihr Geld und unsere Zeit’, habe einer der Kongressteilnehmer, den er eigentlich geschätzt habe, nach dem Vortrag zu ihm gesagt. ‘Wir sind zwar keine Marktfetischisten, wir halten auch nichts von dem Aberglauben, dass der Markt alles von alleine richten werde. Aber von solchen Untergangsszenarien, wie Sie sie vorgetragen haben, davon halten wir noch viel weniger. Davon sind wir meilenweit entfernt.’
Die hatten überhaupt nichts begriffen, Prof Vinz schrie es fast und ich spürte in diesem Augenblick mehr als sonst, wie sehr ihn das Thema in Anspruch nahm und wie tief er sich verletzt gefühlt haben musste.

Mara spricht
Ich war überrascht. Einmal über die Einfachheit der Lösung. Der Turgoteffekt, jetzt wussten wir, was es damit auf sich hat. Zum anderen über die Reaktion, die er auslöste. Immer wieder hörte ich, das sei doch logisch, darüber müsse man doch nicht so viel Worte machen.
Nun gut sagte ich mir, wenn das so logisch ist, dann frage ich mich, warum niemand in der grossen Politik darüber ein Wort verliert, und warum noch viel weniger irgendjemand danach handelt.
Von einem Halt oder gar einem Zurück, was unsere Wirtschaftsentwicklung anbelangt, war bisher nichts zu vernehmen. Ganz im Gegenteil. Nach der grossen Wirtschaftskrise, in der wir immer noch tiefer drinstecken, als uns lieb sein kann, beherrscht doch nur ein Thema die offizielle Politik: Wie gelangen wir wieder zurück zu mehr Wachstum? So als hätte Wachstum von sich aus die Eigenschaft das einzig Wahre und die Lösung aller Probleme zu sein. Das sehe ich zurückhaltender …Vielleicht ist ja immerwährendes Wachstum Teil des Problems und nicht die Lösung?
Solche und ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als alles um mich herum wie wild durcheinander diskutierte, wenn man das überhaupt noch so nennen konnte. Fehlt nur, dass sie aufeinander einprügeln, dachte ich.
Meine Damen und Herren, hörte ich endlich Prof Vinz, der sich fast vergeblich mühte, das Stimmengewirr zu übertönen, ich verstehe Ihre Reaktion…
Er nahm seine hin und her Wanderungen wieder auf, die in der Regel anzeigen, jetzt kommt ein längerer Monolog.
Was sich als Quintessenz aus dem bis hierher Gesagten ableitet, sagte er, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, widerspreche in der Tat so gut wie allem, was wir zu denken gewohnt seien: Erst die Ursache, dann die Wirkung. Und immer in die gleiche Richtung: Gebe ich Gas, fährt das Auto schneller. Gebe ich mehr Gas, fährt das Auto noch schneller.
Und das, was wir gerade gehört hätten, klinge doch genau umgekehrt: Nehme ich Gas weg, gebe ich also weniger Gas, dann soll das Auto schneller fahren?
Das gibt’s doch gar nicht, werden Sie denken.
Prof Vinz schaute uns an, ein wenig amüsiert, wie es schien, über die nicht zu übersehende Irritation in unserem Gesichtsausdruck.
Die so denken, hätten natürlich Recht, sagte er, aber nur bezogen auf den gewohnten Normalfall. Das gelte am Beispiel Ertragskurve für alle Stationen bis zum Maximum. Wir aber behandeln den Grenzfall, den speziellen Fall jenseits des Maximums.
Den Fall des Zuviel.
Der uns schon bald zwingen könnte, anders zu denken. Grundlegend anders, wiederholte er beide Worte betonend.
Er liess das Gesagte im Raum stehen. Fast wie eine Drohung.
Das gilt natürlich nur dann, wenn wir den Verlauf der Turgot’schen Kurve als richtig anerkennen. Und wenn wir ausserdem anerkennen, dass der Kurvenverlauf – wenigstens im Prinzip – für alle organischen Systeme gilt – die Erde als Ganzes eingeschlossen.
Das, muss ich sagen, fand ich jetzt wirklich logisch.

Vinzenz spricht
Ich glaube, versuchte ich, in das ausufernde Chaos einzugreifen, es ist Zeit, dass wir an diesem Punkt erst einmal eine Denkpause einlegen. Natürlich nicht in dem Sinne, dass wir aufhören zu denken. Ganz im Gegenteil, wir sollten eine Pause einlegen, um in Ruhe darüber nachzudenken, um was es hier eigentlich geht.
Bis zu einem gewissen Grad ist Ihre Unruhe nachvollziehbar, auch der Wunsch nach Widerspruch, meinetwegen auch nach Ablehnung. Ich sehe auch, was ich Ihnen vorgesetzt habe, ist starker Tobak, wenn ich das mal so salopp sagen darf.
Der Gedanke, wir müssten ernsthaft davon ausgehen, unsere Erde mit allem menschlichen Leben, das sich auf ihr abspielt, könne sich bereits im jenseitigen Bereich des Kurvenmaximums befinden, ist schwer erträglich. Die Welt hätte ein riesiges Problem. Ich glaube, darin wären wir uns alle einig.
Nicht viel angenehmer ist die Vorstellung, sie stände kurz davor.
Ich ging zurück zum Pult und blätterte ostentativ in meinen Unterlagen, um etwas Abstand zum Gesagten zu gewinnen.
Um die Diskussion übersichtlicher zu gestalten, nahm ich den Faden wieder auf, schlage ich vor, wir zerlegen die Thematik in zwei Teile, in ein Pro und ein Kontra.
Zunächst zum Kontra, dem Widerspruch. Die Kernfrage lautet: Gibt es überhaupt den sich absenkenden Teil des ertragsgesetzlichen Kurvenverlaufs oder steigt die Ertragskurve stetig ohne Ende linear an? Dann gäbe es kein Maximum und auch keinen Turgoteffekt. Das wäre etwas für die Optimismusanhänger unter Ihnen.

Und nun zum Pro. Hier gibt es drei Kernfragen.
Erstens: ist der Verlauf der ertragsgesetzlichen Kurve einleuchtend, das heisst, strebt er nach einem Maximum und fällt danach ins Ungewisse ab?
Kernfrage zwei lautet: Was spricht dafür, dass sich dieser Verlauf auch auf die Erde als Ganzes übertragen lässt?
Und drittens: Wenn ja, wo befinden wir uns? Weit vor, kurz vor oder bereits jenseits des Maximums im abschwingenden Teil der Ertragskurve?
Dazu gehört selbstverständlich die Antwort auf Frage: Wie könnte oder wie müsste die Politik, die Gesellschaft, das einzelne Individuum unter dem Eindruck dieser Erkenntnis darauf reagieren?
Das wäre etwas für die Anhänger einer pessimistischen, nein, sagen wir lieber einer kritischen Interpretation des Turgoteffekts.
Wie auch immer Ihr Urteil ausfällt, eines ist sicher:
Behalten die optimistischen Interpreten Recht (was ich hoffe, aber bezweifle), dann haben wir alle kein Problem. Wir können uns zurücklehnen und so weitermachen wie bisher. Wir müssten nur dafür sorgen, dass es immer schön weiter aufwärts geht.
Behalten die kritischen Interpreten Recht (was ich nicht hoffe, aber befürchte), dann haben wir, dann haben Sie und ich, in erster Linie aber unsere künftigen Generationen ein Problem dessen immense Grössenordnung ich mir nicht auszumalen wage.
Wieder setzte eine heftige Diskussion ein.
Nach einigem Hin und Her gelang es mir, zwei Gruppen aus dem Chaos herauszufiltern, die Argumente für das eine oder das andere erarbeiten sollten.
Bitte Vortrag durch einen Auserwählten in der nächsten Stunde, rief ich in die Unruhe hinein. Die ist übrigens morgen Vormittag schon. Die Marketingvorlesung meines Kollegen fällt aus, er hat mich gebeten, ihn zu vertreten. Insofern haben wir das Glück, dass Sie ihre Argumente unter dem Eindruck des soeben Gehörten taufrisch zu Papier bringen können.
Also, bis morgen früh zur Generaldebatte, rief ich hinterher und zog mich an mein Pult zurück. Umständlich, damit es nicht zu schnell geht, ordnete ich meine Unterlagen. Jetzt kam der schwierigere Teil des Tages, den ich mir selbst zuzuschreiben hatte. Mir war nicht wohl zumute. Unauffällig versuchte ich auszumachen, wo sich Nora aufhielt.

 

Teil 23 Textbeitrag

Mike spricht
Da hockten wir nun in den Stühlen und fühlten uns wie pubertierende Söhne nach der Aufklärung durch den Herrn Papa. Jetzt wussten wir endlich, was der Turgoteffekt ist. Toll!
Ich glaube, niemand unter uns sprang vor Begeisterung über Tisch und Bänke. Im ersten Moment waren wir konsterniert, im zweiten Moment voller Widerspruch. Das war denn auch Gegenstand der heftig aufbrodelnden Diskussion, die sofort danach einsetzte. Allerdings machte sich nach der ersten Abkühlung eine gewisse Nachdenklichkeit breit.
Auch mir ging es so, muss ich zugeben. Wenn man den geschwungenen Verlauf des Turgot’schen Ertragsgesetzes tatsächlich auf die Welt als Ganzes übertragen kann, dann, ja dann müsste man wohl oder übel über einige Dinge vertiefter nachdenken. Vor allem über die Frage, bis zu welchem Punkt dieser Kurve wir uns bereits vorgearbeitet haben könnten.
Die alles entscheidende Frage ist aber wohl in erster Linie, gibt es überhaupt eine solche Kurve? Ist tatsächlich vorstellbar, dass sich das Leben auf der Erde nach so einfachen und im Grunde so klar erkennbaren Regeln entwickelt? Oder laufen wir Gefahr, uns mit einer solchen Vorstellung verrückt machen zu lassen?
Auf die naheliegende Perspektive hin, mich wieder Prügeln auszusetzen, werde ich heute Abend einige Gedanken zu Papier bringen. Egal wie die anderen dazu stehen. Mal sehen, ob dann auch Prof Vinz im Dreieck springt.
Zwei Dinge fielen mir auf, als die Vorlesung zu Ende war. Im Gegensatz zu sonst hatte es Prof Vinz nicht eilig, den Hörsaal zu verlassen. Aber auch Nora machte keine Anstalten aufzustehen.
Ob sie nicht mitkomme, fragte ich sie beim Hinausgehen. Entweder hatte sie mich nicht gehört, oder mich nicht verstanden… sie blieb einfach sitzen. Merkwürdig, murmelte ich, als ich mit den anderen hinausging.

Kyrill spricht
Fühlst du dein Herz? Schlägt es noch? Hör auf seinen Takt! Jeder einzelne ist wichtig. Wie viele der Milliarden Takte, die das Leben sichern, stehen dir noch zur Verfügung? Motiviere dich, motiviere dein Herz, du sollst weiterleben! Deine Lage ist prekär. Wenn du nicht bald gefunden wirst, sieht es nicht gut aus für dich. Meine beiden Buchenbäume haben ganze Arbeit geleistet, du wirst allmählich eins werden mit deiner geliebten Natur.
Wirklich schade, Bäume haben doch so viel Wertvolles, Friedliches. Vor allem Nützliches. Allein schon, weil sie nichts anderes zu tun haben als da zu stehen, am selben Ort, zur selben Zeit, vom Morgen bis zum Abend und in der Nacht, bei Sonne und Regen, bei Schnee und Eis, die sich nur dann bewegen, wenn ich und meine Geschwister durch sie hindurchrauschen. Sie treiben Blätter, lassen Blüten spriessen, treiben Früchte aus, lassen sie reifen, nur um sie wieder abzuwerfen.
Dieser wunderbare Lauf, jedes Jahr aufs Neue bis an ihr Lebensende, den einen zur Nahrung, sich selbst zur Vermehrung, euch zum Nutzen – und zur Freude. Einfach so. Sie sind immer nur da, tun das, was alle Lebewesen tun, da sein, um zu existieren und sich weiterzugeben. Mir scheint ohne Sinn, ohne Zweck, ohne Ziel.

Ohne Zweck ist falsch. Nun ja, wir wissen alle, in welch feinsinniger Weise sie dem Leben dienen. Wir sprachen schon davon. Das haben sie euch voraus, sie sind der relevante Teil des Lebens auf dieser Erde. Ohne sie, ohne ihre helfende Existenz wäret ihr bald am Ende. Namentlich die Bäume sind es, die sich dem gnadenlosen Gesetz der Entropie, dem Zwang zur Auflösung aller Dinge, entgegenstemmen. Sie sichern die Kreisläufe des Lebens, sie zerstören sie nicht.
Und ihr?
Wem spendet ihr Leben?
Welche Kreisläufe sichert ihr?
Glaube mir, auf eure Existenz könnte die Schöpfung problemlos verzichten, auf die der Bäume nicht.

Siggi spricht
Ich bin am Morgen wie üblich einige Minuten vor Veranstaltungsbeginn in unser Lehrstuhlgebäude gegangen, um mit Prof Vinz die Unterlagen für seine Vorlesung zusammenzustellen und in den Hörsaal zu bringen. Der Sturm, der in der Nacht über Europa hinweggebraust war, hatte sich ein wenig beruhigt, fegte aber noch immer mit Intensität über das Fachbereichsgelände. Überall lagen Äste herum, Blätter wirbelten durch die Luft, selbst die Dächer hatten einiges abbekommen.
Ich wartete eine Zeit lang, aber Prof Vinz kam nicht. Also schnappte ich mir seine Tasche und das Vorführgerät, ging die wenigen Schritte zum Nachbargebäude und stieg die Treppe hinauf. Unterwegs stiess ich auf Nora. Sie wirkte nervös. Sie schaute mich kaum an, nickte nur kurz und schlich sich förmlich an mir vorbei in den Raum. Am Hörsaaleingang blieb ich stehen.
Kurz danach tauchte Mike auf. Er sah übernächtigt aus. Nach und nach trudelten die anderen ein und suchten sich einen Sitzplatz. Als Prof Vinz immer noch nicht erschien, ging auch ich hinein, stellte das Gerät auf den Tisch und schaltete den Strom ein.
Ungewöhnliche Ruhe trat ein. Ich schaute auf die Uhr. Es war schon deutlich über der Zeit. Prof Vinz könnte langsam auftauchen, dachte ich, er ist doch sonst so pünktlich. Ob er vergessen hat, dass er heute eine Vertretungsstunde…?
Wir könnten doch schon mal anfangen, machte einer den Vorschlag. Vielleicht ist ihm heute Nacht ein Baum aufs Haus gefallen und er kann nicht mehr raus, krähte unser Hörsaalkasper.
Hat jemand seine Telefonnummer? Rufen wir ihn doch an. Niemand wusste seine Nummer, ich auch nicht. Ich sah, wie Nora auf ihrem Platz unruhig hin und her rutschte.
Also gut, sagte ich ohne Begeisterung, fangen wir schon mal an mit der Diskussion. Einige nickten. Ich schlage vor, wir beginnen mit den Kontraargumenten: Was spricht gegen den Kurvenverlauf von Turgot?
Nach der hitzigen Diskussion von gestern klang das, was jetzt einsetzte, sehr matt. Oder lag es daran, weil ich es fragte und nicht Prof Vinz?

Mike spricht
Ich hatte mich am Abend sogleich mit den Kommilitonen meiner Gruppe zusammengesetzt, um gemeinsam ein Papier zu verfassen. Viel war nicht dabei herausgekommen. Ihnen fehlten einfach die Argumente mit der nötigen Durchschlagskraft. Oder hatten sie etwa nicht den Mut, sich gegen die Herrschaftsmeinung unseres Profs zu stellen? Es hatte fast den Eindruck. Irgendwann wurde es mir zu dumm.
Lasst mal, sagte ich, ich mache das Papier alleine und trage es morgen vor. Ihr könnt noch ein Bierchen trinken gehen. Aber morgen will ich euch im Rücken haben. Mir ist es schon einmal schlecht ergangen, nur weil ich meine Meinung zu sagen wagte. Das möchte ich so nicht mehr erleben.
Erleichtert waren sie abgezogen.
Am Morgen fand ich eine etwas aufgelöste Hörerschaft vor. Ich war spät dran und hastete die Treppe hinauf. Am Hörsaaleingang stiess ich auf Siggi, der auf jemanden zu warten schien. Er stand wie abwesend da und grüsste kaum. Na gut, dachte ich, der Sturm, das Wetter, die frühe Stunde, das verträgt nicht jeder. Dabei hätte ich mich gar nicht zu beeilen brauchen, Prof Vinz glänzte noch durch Abwesenheit. Unschlüssig hockten wir auf unseren Stühlen. Es war schon sehr ungewöhnlich, dass unser Prof nicht rechtzeitig zur Vorlesung erschien. Er war die Pünktlichkeit in Person. Nur mit dem rechtzeitigen Beenden einer Vorlesung haperte es manchmal.
Als sich Prof Vinz auch nach einer Viertelstunde immer noch nicht blicken liess, kam der Vorschlag, doch schon mal mit der Diskussion zu beginnen. Der Einfachheit halber sollte Siggi den Moderator spielen. Was er dann auch sichtlich gerne tat.
Ich hatte mich gleich gemeldet, als er die Kontras aufrief. Mit nervösen Händen fingerte ich mein Papier aus der Jackentasche und faltete es auseinander. Mir wurde ganz warm, als ich es vorzulesen begann.

Nora spricht
Ich vermochte der Diskussion nichts abzugewinnen, weil … , sie interessierte mich nicht mehr. Ich musste immer nur an Vinzenz denken. Gestern Abend war ich nicht zu ihm gefahren, obwohl ich es selbst vorgeschlagen hatte. Ich konnte einfach nicht. Ihn anrufen hätte ich noch weniger können. Und dann dieses ständige Geklingele…, ich war nicht im Stande abzunehmen. Was hätte ich ihm denn sagen sollen?
Die Situation war grotesk. Zuerst dachte ich, als er mich gestern bat, nach der Vorlesung auf ihn zu warten, jetzt will er mir wie üblich Vorwürfe machen. Aber einen Heiratsantrag, einen richtigen, förmlichen Heiratsantrag …, damit hatte ich nicht gerechnet. Das hatte mich umgehauen.
Der hing jetzt wie ein Damoklesschwert über mir.
Liebe Nora, hatte er gesagt und mich mit beiden Händen an den Schultern gefasst, als könnte ich ihm davonlaufen, ich frage dich, willst du meine Frau werden? Sag bitte nur ja oder nein. Sonst nichts.
So geht das doch nicht, war mein erster Gedanke, ohne … einfach so in einem Hörsaal. Fehlte nur noch vor allen Studenten. Nein, so nicht, wenn es denn überhaupt geht, das war mir ohne langes Überlegen klar. Nein, ich kann nicht seine Frau werden. Man kann sich lieben, man kann immer wieder zu allen möglichen und unmöglichen Dingen zusammenkommen, wunderschöne Erlebnisse haben. Aber es muss auch wieder ein Ende haben. Damit es wieder einen Anfang hat, damit es immer wieder neu beginnen kann. Und jetzt das, ihn heiraten … alles festlegen ….Ich habe ihm gesagt, dass ich heute Abend zu ihm kommen wolle, um mit ihm darüber zu reden. Ich wollte nur weg, weg aus dieser merkwürdigen Situation, fort aus diesem Hörsaal …
Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass Vinzenz eine ganz andere Reaktion erwartet hatte. Ein kurz entschlossenes Nein zum Beispiel. Aber, wie hätte ich das denn machen sollen? Einfach nein sagen, den Kopf schütteln, ihn kurzerhand stehen lassen? Ich fühlte mich wie zwischen zwei Mühlsteinen, die mich ricke, racke ohne Gnade zu zermahlen begannen.
Und als dann auch noch der Sturm einsetzte … Ich habe Angst vor Stürmen, wie andere Angst vor Hunden haben. Mit Ohrstöpseln habe ich mich ins Bett verkrochen, eine Flasche Wein beseitigt, dem vielen Telefongeklingel getrotzt … dann bin ich tatsächlich eingeschlafen und heute Morgen viel zu spät aufgewacht. Die Würfel waren gefallen. Ich musste nur noch die Begegnung im Hörsaal überstehen – und wir wären wieder frei gewesen, befreit von uns selbst, die wir zu viel von uns verlangt hatten.

Dass er jetzt nicht zur Vorlesung erschien, machte mich völlig fertig. Damit spielt er nicht, das wusste ich. Das war nicht seine Art. Plötzlich wurde mir klar, es muss etwas passiert sein.
Ich musste zu ihm. Sofort!
Ich brauche deine Autoschlüssel, sagte ich flüsternd zu Mike, der die ganze Zeit furchtbar engagiert neben mir sass und nicht enden wollende Sprüche von sich gab.

 

Teil 24 Textbeitrag

Mike spricht
Mit leicht klopfendem Herzen trug ich mein Papier vor:
Zunächst einmal gebe ich Professor Accola Recht: Ich glaube selbstverständlich nicht, dass organische Entwicklungen, welcher Art auch immer, geradlinig bis ins Unendliche verlaufen können. Es gibt für alles, was wächst, Grenzen. Stossen wir an diese, gibt es ein Abwärts, ein Abknicken oder sonst irgendetwas, das der Geradlinigkeit ein Ende setzt. Insofern ist lineares Denken vom Übel, da stimme ich mit ihm überein.
In gewisser Weise glaube ich sogar, dass die Turgot’sche Kurve ein Stück Realität widerspiegelt. Das Beispiel Acker ist für mich überzeugend. Aber, ich setze hier ein dickes Aber, das gilt doch nur für den Acker. Wer sagt denn, dass sich diese These auch auf die Erde als Ganzes übertragen lässt? Ist die Erde nicht mehr als nur ein simpler Acker? Ist sie nicht sogar mehr als die Summe aller Äcker?!
Ich ahmte Prof Vinz nach, indem ich ostentativ eine Pause einlegte und dann anfing, im Saal auf und ab zu stapfen. Einige lachten. Als ich auch noch mit den Armen herumfuchtelte, war das Gelächter gross. Ich fing einen bösen Blick von Nora auf.
Ich ging wieder zu meinem Platz zurück. Wir wissen doch aus der Biologie, dass die Evolution nicht allmählich, also nur in kleinen Schritten vorangekommen ist. Sie machte immer wieder heftige Sprünge. Sie hüpfte von Niveau zu Niveau, mit jedem Satz ein wenig höher. Und genau so ist es mit unserer wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung. Auch sie macht Sprünge. Von Niveau zu Niveau, immer ein Stück aufwärts, immer nach oben!
Wieder machte ich eine Achtungspause à la Prof Vinz und schaute gross in die Runde. Was ich sagte, erfreute sich offensichtlich einer nicht geringen Aufmerksamkeit. Das gab mir Mut.
Ich will gar nicht von den grossen Schüben reden, die die Entwicklung in Riesensprüngen vorangetrieben haben, zum Beispiel die Erfindung der Elektrizität, der Dampfmaschine oder des Verbrennungsmotors. Oder des Computers oder des Internets. Das weiss ohnehin jeder.
Ich will nur ein ganz kleines, aber feines Beispiel aus der Praxis bringen. Weil ich da mal vor Jahren gearbeitet habe.
Noch bis in die siebziger Jahre gab es im Buchdruck den Bleisatz. Jeder Buchstabe musste, fast wie zu Gutenbergs Zeiten, wenn auch mit einer Maschine, aber doch Zeile für Zeile einzeln auf eine Schiene gesetzt werden. Was die Schnelligkeit der Drucklegung betraf, war man zweifellos an ein Maximum gestossen. Das liess sich nicht mehr steigern.
Und dann kam der Lichtsatz. Eine Revolution! Da war schon ein richtiger Computer am Werk. Die Buchstaben wurden wie mit der Schreibmaschine eingegeben, liessen sich sozusagen vor Ort korrigieren, wurden dann aber wie beim Fotografieren auf eine Filmfolie übertragen. Plötzlich ging der ganze Druckvorgang um ein Mehrfaches schneller.
Dieses Beispiel zeigt meines Erachtens sehr schön: Kommen wir mit einer Technik in den Grenzbereich, wo es nicht mehr weitergeht, setzt eine neue Erfindung den Weg auf einer höheren Ebene fort. Unsere schöne Turgotkurve hat sich durch Parallelverschiebung nach oben verschoben. Und die nächste Parallelverschiebung hat derzeit längst schon stattgefunden, nämlich durch die Digitalisierung der Datenverarbeitung. Jetzt geht der Text, in digitale Zeichen zerlegt, vom Schreibcomputer unmittelbar in die Druckmaschine ein. Womit wir in der Gegenwart angekommen wären.
Fazit: Turgot hat Recht, allerdings nur für eine bestimmte Ebene. Durch Parallelverschiebung aufgrund technologischer oder organisatorischer Neuerungen erschliessen wir uns immer neue, höhere Ebenen, auf denen es dann mit oder trotz Turgot munter weitergeht.

Liebe Freunde, sagte ich, schon leicht erschöpft, das war das Ergebnis einer Nachtübung von gestern auf heute. Das zu Papier zu bringen, war mir wichtig. Selbst dieser verrückte Sturm hat mich nicht davon abhalten können. Danke fürs Zuhören, fügte ich noch an und lächelte erleichtert.
Was ich kaum erwartet hatte, Beifallsklopfen war zu hören, und das mir. So etwas tut gut. Richtig schade, dass unser Prof nicht hier ist. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen. Ich setzte mich.

Siggi spricht
Dieser Mike ist schon ein cooler Hund, dachte ich anerkennend. Im Moment waren wir alle perplex.
Die Diskussion drohte zu kippen.
Hinzu kam, wir, die wir uns als Pro-Argumentierer verstanden, fühlten uns wie enthauptet. Schliesslich war Prof Vinz unser argumentativer Kopf, und wenn der fehlt… Im Gefühl des sicheren Sieges hatte sich keiner von uns richtig vorbereitet. Ich nicht, aber auch Mara nicht, die in letzter Zeit sehr aktiv war. Von Nora ganz zu schweigen, die seit einiger Zeit überhaupt nichts mehr von sich gab.
Unmöglich konnten wir das so stehen lassen. Ich war richtig zornig auf Prof Vinz, dass er uns in einem so entscheidenden Moment im Stich liess.
Dann hatte ich die rettende Idee. Die Tasche, seine Unterlagen!
Okay Mike, sagte ich, dir ist da ein guter Wurf gelungen. Die erste Runde geht an dich, Gratulation. Alles andere hätte uns enttäuscht. Ich lächelte ihn breit an. Er lächelt zurück. Wir verstanden uns schon sehr gut.
Mich hat man, mehr unfreiwillig als freiwillig, zum Argumentator der Gegenseite auserkoren. Wenn ich ehrlich sein soll, traue ich mir im Moment keine gleichwertige Antwort zu. Wir hatten uns alle auf Prof Vinz verlassen. Jetzt stehen wir da und gucken in die Röhre.
Aber ich hätte einen Vorschlag, sagte ich. Wenn Prof Vinz schon nicht da ist, solle er doch wenigstens indirekt zu Wort kommen. Hier ist seine Tasche. Ich bin sicher, dass er sich Notizen gemacht hat. Wie wär’s, wenn ich in seinen Unterlagen nachschaue, was er in unserer Diskussion zu sagen gehabt hätte.
Ich hörte zustimmendes Gemurmel.

Irgendwie gefällt mir das nicht, dass wir nicht selbst was auf die Beine stellen können, rief plötzlich unser Hörsaalkasper in ungewohntem Ernst dazwischen. Was Mike uns da erzählt, ist ja gut und schön, aber hat er nicht einfach Mikro und Makro verwechselt? Klar hat uns der Lichtsatz weiter gebracht als der Bleisatz. Ist es aber nicht gerade der hochgelobte technische Fortschritt, der uns in diesen Schitt, Umweltverschmutzung, Klimawandel und so weiter, hineingeritten hat? Was denn sonst als der technische Fortschritt. Er ist die Wurzel allen Übels. Wenn wir noch mit der Hand schreiben würden, ginge alles langsamer. Ginge es uns deswegen schlechter? Zumindest gäbe es weniger CO2.
Das seien doch alles nur punktuelle Teilerfolge, ohne Sicht auf das Ganze, setzte er nach. Wir hätten viel zu spät daran gedacht, dass wir nicht nur essen und trinken, sondern eben auch auf die Toilette gehen müssen. Entscheidend ist, was hinten rauskommt, das hat doch schon unser Altbundeskanzler gewusst. Und jetzt wundern wir uns, dass der Abort bis zur Unterkante Klodeckel voll ist und infernalisch an zu stinken fängt.
Ich schickte ihm einen verwunderten, um nicht zu sagen bewundernden Blick zu. Abgesehen von der Wortwahl war das nicht schlecht, das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Aber ehe ich darauf eingehen konnte – er hatte ja soeben geschickt eine Tür geöffnet, um auf Mike eine Antwort zu finden – stand Mara auf.

Mara spricht
Was Mike vorhin gesagt hat, klingt verblüffend logisch, das stimmt. Aber nur im ersten Moment. Wenn man genauer darüber nachdenkt, wird einem schnell klar, worin der Denkfehler besteht. Unser Kasper, Pardon, ich meine mein Vorredner hat das schon angedeutet. Es ist der Widerspruch, der aus der Sicht des Einzelnen und der Sicht des Gesamten entsteht. Dass sich daraus Konflikte ergeben können, wurde ja schon angesprochen. Wobei ‘der Einzelne’ auch ein Unternehmen, ein internationaler Konzern oder sogar ein ganzer Staat sein kann. Vielleicht sogar ein ganzer Kontinent.
Meines Erachtens liegt der Denkfehler in Folgendem: Eine technische Innovation hebt in der Tat die Ertragskurve durch Parallelverschiebung nach oben, das ist richtig. Man kann bei gleichem Input ein Mehr an Output erwirtschaften. Das geschieht mit jeder neuen Innovation.
Aber ist es nicht genau so logisch, anzunehmen, dass die dadurch entstehende Bewegungsrichtung einer Linienführung folgt, die wiederum dem Verlauf des Ertragsgesetzes entspricht? Und deshalb insgesamt doch wieder abnehmende Grenzraten aufweist?
Um beim Beispiel Acker zu bleiben. Nehmen wir die Entwicklungssprünge vom Grabstock zum Pflug, vom Pflug zum Trecker und so weiter. Es gibt eine Ertragskurve für den Grabstock, eine Ertragskurve für den Pflug und eine für den Trecker. Jedes Mal auf höherem Niveau. Und dann eine für den Dünger und eine für den Grosseinsatz von Mehrfachpflügen und Riesenmähdreschern. Und trotz des immer höheren technischen Niveaus, auf das die Ertragskurven gehoben werden, erleben wir in weiten Teilen der Welt, zum Beispiel im mittleren Westen der USA, ein rapides Nachlassen der Bodenfruchtbarkeit. Das ist einfach ein Fakt. Ganz ähnlich in China und vielen anderen Ländern mit agrarischer Grossproduktion.
Warum? Weil der Grosseinsatz von Maschinen, Düngemitteln und Pestiziden die Äcker ruiniert haben. Den Rest hat die Erosion besorgt. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Turgots zweieinhalb Jahrhunderte alte Erkenntnis vom Nachlassen der Ertragskraft ist für mich eindeutig die Erkenntnis der Realität von heute.
Tut mir leid, Mike, aber da irrt der Philosoph.

Siggi spricht
Peng, das sass. Mara, die Kämpferin, ich war wieder einmal komplett überrascht von ihr. Ich glaube, ich habe sie sträflich vernachlässigt, wollte sagen, unterschätzt. Das sollte ich tunlichst korrigieren.

Ich glaube, sagte ich in die erstaunte Runde, jetzt steht es eins zu eins unentschieden. Wollen wir nicht doch erst einmal das Schatzkästlein unseres Gelehrten in absente öffnen und schauen, was uns Prof Vinz zu sagen hätte?
Es erwies sich schwieriger als gedacht, aus dem Wust an Papieren in seiner Aktentasche genau die Unterlagen herauszufischen, die sich auf die heutige Vorlesung bezogen. Und so einer redet über Effizienz, dachte ich. Er sollte erst einmal in seiner Tasche für Ordnung sorgen.
Endlich! Triumphierend hielt ich meine Beute in die Höhe.
Ich hab’s gefunden, rief ich in das Getümmel, es kann losgehen.
Prof Vinz hatte sein Papier vorsorglich in entsprechender Anzahl kopiert, so dass ich es nur noch zu verteilen brauchte.Ziemlich plötzlich war Ruhe eingekehrt. Ich sah zwei Dutzend nach vorn geneigter Köpfe, die sich erwartungsvoll über den Schriftsatz beugten.
Doch dann unterbrach eine unerwartete Bewegung die eingetretene Stille. Wie auf Verabredung erhoben sich Mike und Nora, packten ihre Sachen und stapften im Gleichtakt zur Tür. Ich war perplex. Und so muss ich wohl auch ausgesehen haben. Sonst wäre Mikes: ‘Mach den Mund zu, es zieht!’ eine glatte Beleidigung gewesen. Eine platte dazu!
Was ist denn in die beiden gefahren, dachte ich konsterniert, als er hinterherzischte: ‘Wir sind gleich wieder da.’
Das machte die Sache noch ominöser. Warum ausgerechnet jetzt und warum Mike und Nora? Und warum packen sie ihre Sachen, wenn sie gleich wieder da sein wollen? Ganz vage spürte ich, dass das etwas mit Prof Vinz’ und seiner Abwesenheit zu tun hatte.

Mike spricht
Eine Zeit lang waren wir damit beschäftigt, das Papier zu lesen.
Doch eine plötzlich unruhig gewordene Nora hinderte mich daran, die Lektüre abzuschliessen. Die ganze Zeit hatte sie kein Wort gesagt, sass nur wie versteinert da. Auch auf das, was ich gerade vorgetragen hatte, reagierte sie nicht. Und das von Siggi verteilte Paper von Prof Vinz überflog sie nur und legte es achtlos beiseite. Sehr merkwürdig, dachte ich.

Plötzlich drehte sie sich zu mir und flüsterte: Ich brauche dein Auto. Bitte, gib mir den Schlüssel.
Was willst du denn jetzt mit meinem Auto, flüsterte ich zurück.
Bitte, ich brauche es, jetzt sofort.
Warum gerade jetzt, mitten in der Diskussion?
Ich brauche es halt.
Sie schien einen Augenblick zu überlegen: Es ist wegen Vinzenz, flüsterte sie kaum hörbar.
Was ist denn mit Prof Vinz, willst du etwa zu ihm!?
Frag nicht, gib mir den Schlüssel, bitte.
Okay, aber nur, wenn ich mitkommen darf.
Sie schaute mich lange gross an, als wollte sie sagen: Gut, du hast es so gewollt. Sie nickte.
Die Diskussion über mein Papier, das ich soeben vorgetragen hatte, war gerade voll in Gang gekommen, als wir uns zum sichtbaren Erstaunen aller vom Platz erhoben und aus dem Saal marschierten. Ja, es war fast im Gleichschritt und nicht nur das löste unschöne Bemerkungen aus. Siggi starrte uns mit offenem Mund an, als wollte er gleich einen Schrei ausstossen.
Im Vorbeigehen machte ich eine despektierliche Bemerkung, er solle den Mund zumachen, es zöge oder so ähnlich, um dann deutlicher hinzuzufügen: Wir sind gleich wieder zurück. Nora sprang, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Nur mühsam konnte ich ihr folgen.
Der Sturm hatte wieder an Stärke zugenommen, als wir, Nora mehrere Schritte voraus, über den Hof eilten. Sag’ jetzt endlich, wo du hinwillst, rief ich hinter ihr her. Wo wohnt denn dein Vinzenz, den Vornamen unüberhörbar betonend.
Das wirst du gleich sehen, rief sie, ohne sich umzudrehen. Ich sage dir, wie du fahren sollst.
Schweigend stiegen wir ein und fuhren los. Ich ahnte, dass ich auf eine nicht sehr angenehme Erkenntnis zusteuerte. Wir schwiegen auch noch, als wir über den Ring die Stadt verlassen hatten. Komisch, in dieser Gegend war ich noch nie, dachte ich.
Woher weisst du überhaupt, wo Professor Accola wohnt, versuchte ich eine Frage.
Ich weiss es halt, blitzte sie mich ab. Und dann schwiegen wir, bis ich nach links in einen Feldweg einbiegen musste. Hier rein? fragte ich ungläubig.
Ja, hier rein, sagte sie.
Wir fuhren an einem Wald vorbei, in dem der Sturm bereits ganze Arbeit geleistet hatte. Umgeknickte Bäume in Massen. Wie Mikadostäbe nach dem ersten Wurf lagen sie kreuz und quer durcheinander.
Es ging noch zweimal rechts herum und dann hielten wir an einem Waldrand vor einem mehrfarbig gestrichenen Holzhaus.
Hier wohnt er, in dieser Einöde?
Ja, hier wohnt er. In dieser Einöde. Warte hier, bitte.
Wir stiegen aus. Nora verschwand durch das Gartentor. Erstaunlicherweise war der Wald hier noch unversehrt.
Nach kurzer Zeit kam sie zurück. Er ist nicht da, sagte sie aufgeregt. Die Tür ist nicht abgeschlossen, also war er hier gewesen. Vor dem Haus steht sein Auto. Er muss hier irgendwo sein.
Unschlüssig standen wir herum. Der Wind pfiff uns um die Ohren.
Wo kann er denn hin sein? fragte ich, um überhaupt etwas zu sagen.
Wenn ich das wüsste …, stiess sie es heraus, den Tränen nahe. Mir war klar, da steckte mehr dahinter. Hatte ich es nicht bemerkt oder die ganze Zeit nur ignoriert, um es nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen?
Es klingt banal, trotzdem, überleg mal, wo könnte er hingegangen sein, machte ich einen weiteren Versuch. Bitte denk’ nach. Er hat doch bestimmt seine Gewohnheiten …
Ja, ich glaube, ich weiss jetzt, unterbrach sie mich, wohin er …, die Burg. Sie wies auf die Bergkuppe hinter dem Wald, auf dem ein nicht zu übersehendes hochherrschaftliches Gemäuer thronte.
Komm wir gehen, sagte sie und rannte auf den vom Sturm gepeitschten Wald zu.
Da gehe ich nicht rein, rief ich hinter ihr her, das ist viel zu gefährlich. Bitte, komm zurück. Sie drehte sich um.
Wenn du nicht mitkommst, dann gehe ich alleine. Bleib hier und warte auf mich.
Das wollte ich dann doch nicht und folgte ihr langsam.

Kyrill spricht
Mein Name ist Kyrill, der zum Herrn Gehörende, nur ihm bin ich nah. Trotzdem, ich bin ein Sturm, ein Sturm wie andere auch. Doch wir werden mehr werden und gewaltiger. Wir werden über euch kommen – für die einen wie das Jüngste Gericht, für die anderen wie eine Erlösung.
Und ihr, die Heutigen, ihr seid auserwählt, all das Mächtige, das Gewaltige, das sich bis ins Unvorstellbare Steigernde mitzuerleben. Ist das nicht fantastisch? Ihr bekommt die einmalige Gelegenheit, Zeuge einer hoch spannenden Entwicklung zu werden – wenn sich nichts ändert. Oder aber, ihr werdet erleben, dass sich etwas ändert, weil ihr etwas verändert.
Das eine oder das andere, beides ist spannend. Und ihr werdet es schon bald erleben, nicht erst am Ende aller Zeiten.
Ja mit den Zeiten wird es ohnehin so weitergehen wie bisher. Die Sonne wird aufgehen, die Sonne wird untergehen. Es wird Morgen, Mittag, Abend werden, die Nächte werden dunkel sein. Und das Tag für Tag. Am Himmel werden die Sterne leuchten, dieselben Glitzerdiamanten, die seit Jahrmillionen auf uns herabschauen. Bäume werden wachsen, Blumen werden blühen. Der Fuchs wird dem Hasen Gute Nacht sagen, wenn er gerade keinen Hunger hat. Daran wird sich nichts ändern.
Nur die Sonne, sie wird nicht mehr so sein wie früher. Man wird sie fürchten. Der dürstende Wanderer wird länger brauchen, bis er einen Brunnen findet. Und wenn er ihn gefunden hat, wird er froh sein, wenn Wasser darin ist. Und nicht nur schwarze Brühe, die aus einem Bohrloch quillt.
Ach nein, was rede ich da. Natürlich wird es genügend Wasser geben. Nur nicht da, wo es am meisten benötigt wird. Viele werden sehr viel weiter laufen müssen, um an das kostbare Nass zu kommen. Sehr viele. Da werden Massen in Bewegung geraten. Sie kommen von weit her. Ich fürchte, sie werden nicht sehr nett sein, wenn sie – endlich – auf einen Brunnen stossen. Sie werden trinken wollen, koste es was es wolle. In der Ausweglosigkeit herrscht Mitleidlosigkeit.
Und nach den Durstenden kommen die Hungernden!

 

Teil 25 Textbeitrag

Siggi spricht
Was blieb mir anderes übrig, als wieder mal gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Als Nora und Mike verschwunden waren, nahm ich mir das Textblatt vor und las:

Konsequenzen aus dem Turgoteffekt
Die Kernpunkte der Vorlesung noch einmal zusammengefasst:
Die globalisierte Welt ist – heute – der Turgotsche Acker. Es gibt nur diesen einen Acker, genannt Erde. Er hat eine fest umrissene, nicht erweiterbare Fläche. Seine Bewirtschaftung folgt dem Ertragsgesetz von Turgot. Im Maximum sind alle Möglichkeiten zur Ertragssteigerung ausgeschöpft.
Auf dem Weg zum Maximum sind zusätzliche Erträge nur noch möglich, wenn der Arbeits- und Materialeinsatz (Input) überproportional gesteigert wird. Das heisst, man muss immer mehr Input (Arbeitseinsatz, Energie Rohstoffe) einbringen, um ein (immer kleiner werdendes) Mehr an Output, sprich Sozialprodukt, zu erzielen. Das gleicht dem Turgot’schen Beispiel von der Spiralfeder. Auch sie muss mit immer mehr Gewichten belastet werden, um sie ein gleichgrosses Stück weiter zusammenzudrücken.
Folgt man diesem Erklärungsansatz, heissen die zentrale Fragen:

Lässt sich der Verlauf des Ertragsgesetzes auf die Erde als Ganzes übertragen?

Wenn ja, wo befinden wir uns, bzw. die Erde derzeit auf der Turgotschen Kurve?
Sind wir bereits in der Nähe, womöglich schon jenseits des Maximums, der Situation also, in der Erträge trotz vermehrtem Mitteleinsatz absolut rückläufig sind?
Wenn dem so wäre, folgt daraus die Widersprüchlichkeit des Turgoteffekts:
Eine Steigerung der Erträge ist nur noch durch Verminderung des Arbeits- und Mitteleinsatzes möglich.
Diese, undgewöhnliche, beinahe paradoxe Aussage ‘Vermindere den Input und du steigerst den Output’ hätte enorme Konsequenzen für unser Wirtschaftssystem, und zwar auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene.

Aber Achtung: Eine modellgerechte Reduktion des Arbeits- und Mitteleinsatzes würde zwar erwartungsgemäss wieder zu steigenden Erträgen führen, liefe aber Gefahr, dass danach erneut versucht werden könnte, die Erträge über eine Steigerung der Inputfaktoren wieder zu erhöhen. Womit das Ganze von vorne losginge. Die Dinosaurier hätten sich in den Schwanz gebissen, die Welt hätte nichts gewonnen.
Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?

Nora spricht
Auf einmal ahnte ich, wo ich Vinzenz zu suchen hatte: die Burg, an deren Mauer wir so oft gesessen hatten. Wenn, dann ist er dort und leckt seine Wunde namens Nora. Meine kühle Ironie erstaunte mich selbst. Aber auf keinen Fall wollte ich der Panik nachgeben, die sich in mir breit zu machen drohte.
So dachte ich und einiges mehr, das sich nicht so unterkühlt anfühlte, als ich den Waldweg entlanglief, mit einem wenig erbauten Mike im Schlepptau, der widerwillig hinter mir her trottete.
Ganz unrecht hatte er mit seiner Warnung nicht. Mir war keineswegs wohl zu Mute, den heulenden Wind über mir und die bedrohlich schwankenden Bäume um mich herum. Die Ahnung, die mich hierher geführt hatte, trieb mich vorwärts. Dass sie nicht trog, zeigte sich bald.
Dabei war nicht einmal ich es, es war Mike, der das richtige Auge hatte. Nach wenigen hundert Metern stiess ich auf zwei umgestürzte Bäume, die den Weg versperrten. Auch das noch, schimpfte ich, und versuchte, mich durch das Astgewirr hindurchzuarbeiten. Als ich es endlich geschafft hatte, eilte ich weiter. Um ein Haar hätte ich Mikes aufgeregtes Rufen überhört.
Nora warte, hier ist was!
Als ich nicht reagierte, brüllte er: Nora, nun warte doch, hier liegt jemand.
Jetzt reagierte ich sofort und wühlte mich wieder durch das Geäst zurück. Tatsächlich, unter den Zweigen waren die Konturen einer Gestalt zu erkennen, die fast vollständig mit Laub zugedeckt war. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, als wir sie freigelegt hatten.
Vinzenz!
Wie tot lag er da, bleich, blutig, die Arme ausgestreckt. Ich kniete mich neben ihn, berührte mit den Fingerspitzen seine Wange. Ich glaubte noch Wärme zu spüren.
Er lebt noch, rief ich, Mike, wir müssen Hilfe holen. Sofort! Bitte, ruf die Klinik an, die sollen den Rettungshelikopter schicken.
Mike stand mit hängenden Armen da.
Mein Handy …
Was, rief ich entsetzt, du hast dein Handy nicht dabei? Jetzt wo du es endlich einmal sinnvoll einsetzen kannst!?
Einen Augenblick stand ich da, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Dann löste sich die Erstarrung. Ruhig sagte ich zu Mike: Mike, bitte, du läufst jetzt zum Auto und fährst runter in den Ort. An der Kirche ist eine Telefonzelle, da kannst du anrufen. Dann komm bitte zurück und bleib beim Haus. Wenn der Hubschrauber kommt, musst du ihn einweisen. Ich sagte ihm noch schnell die Adresse, um sie dem Rettungskommando durchzugeben.
Bitte beeil’ dich. Ich glaube nicht, dass wir noch viel Zeit haben. Ich warte hier.
Und, als er losrannte: Auch die Feuerwehr alarmieren, nicht vergessen! rief ich hinter ihm her.
Er hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Eine Zeit lang schaute ich ihm nach. Ein Glück, dass er mitgekommen ist. Wenn man ihn braucht, ist er da, dachte ich, das muss man ihm lassen.

Siggi spricht
An der eingetretenen Stille, die immer noch anhielt, merkte ich, dass das Papier eine gewisse Wirkung auslöste. Ich schaute herum, aber niemand schien Lust zu haben, sich als erster äussern zu wollen. Also las ich weiter:

Das Plateau als Lösung!
Was wir brauchen, ist – statt weitere Steigerungen – ein Plateau!
Was ist darunter zu verstehen?
Spätestens nach Erreichen des nationalen Maximums (besser bereits vorher) sollten die Volkswirtschaften der Länder so gesteuert werden, dass das Weltsozialprodukt – die BSP- Summe aller Länder – nicht weiter steigt, sondern in jedem Jahr nur noch zu einem (im Idealfall) etwa gleich hohen Ergebnis führt. Zumindest sollte ein eventuelles Wachstum so weit reduziert werden, dass der Mehrverbrauch an Energie und Rohstoffen allein durch Verbesserung der Ressourceneffizienz, also durch schonenden und nachhaltigen Umgang mit den lebenswichtigen Grundstoffen, ausgeglichen werden kann, der Saldo mithin gegen Null tendiert.
Das bedeutet konkret (vor allem für die wirtschaftlich entwickelten Staaten):
- keine rein quantitative Wachstumsmaximierung mehr;
– Beschränkung der (freien) Konkurrenz, um eine ungebremste quantitative Grössenzunahme zu verhindern, weder einzelbetrieblich, gesamtwirtschaftlich noch weltwirtschaftlich;
– Wachstum nur noch qualitativ zulassen, zur Erhaltung, Sicherung und Verbesserung der Qualität des Lebens;
– Effizienzsteigerungen nur insoweit zulassen, als damit Einsparungen an Ressourcen- und Energieverbrauch verbunden sind
– Förderung beschäftigungsintensiver Produktionsverfahren, um zusätzliche Arbeitsplätze aufzubauen

Um eine Stabilisierung des Sozialprodukts aller Volkswirtschaften (als Durchschnittswert) auf dem bis dato erreichten Niveau zu erreichen, wäre eine Zertifikatlösung (ähnlich wie bei Schadstoffemissionen) denkbar. Der Staat vergibt ‘Wachstumszertifikate’: Unternehmen, die an Grösse zulegen wollen, müssen entweder nachweisen, dass sie an anderer Stelle Kapazitäten abbauen oder Wachstumszertifikate von anderen Unternehmen erwerben, die bereits abgebaut haben bzw. nicht an Grösse zulegen wollen. Auf diese Weise ‘lohnt’ es sich, nicht nur Produktionskapazitäten durch Verkauf von Zertifikaten zu reduzieren, sondern auch generell auf betriebliches Wachstum zu verzichten. Zugleich würde eine unkontrollierte Grössenzunahme einzelner Unternehmen (weil teurer geworden) erschwert.
Des weiteren sollten sich die unterschiedlich hohen Plateaus der einzelnen Volkswirtschaften auf lange Sicht einander annähern.
a) durch sukzessive Anhebung der niedrigeren Niveaus,
b) durch behutsame Absenkung der Spitzenniveaus
ein weltpolitisches Annäherungsprozedere, das sich, wenn überhaupt, nur langfristig realisieren liesse.

Ein Kompromissvorschlag, der schneller zum Erfolg führen könnte:
Hilfsweise wäre denkbar, statt prozentualen Wachstumsraten – die ja zu absolut immer höheren Zuwächsen führt – nur noch absolute Wachstumsgrössen zuzulassen, bzw. vorzugeben, also ein konstanter Ausgangswert als ‘erlaubte’ jährliche Zunahme über einen längeren Zeitraum hinweg.
In einem zweiten Schritt könnten dieser Wert Schritt für Schritt abgesenkt werden, bis er den Wert null erreicht.
In einem dritten Schritt könnte er – für die wohlhabenderen Industrieländer – negative Grössenordnungen annehmen, um die
unterschiedlich hohen Plateaus der Länder einander schneller anzugleichen.

Fazit:
Das alles klingt sehr theoretisch, um nicht zu sagen utopisch. Ein solches Plateaumodell würde derzeit kaum jemandem gefallen.
Aber was wäre die Alternative?
Unbestreitbar ist: Einfach weitermachen wie bisher ist die schlechteste (wenn auch bequemste) aller Handlungsalternativen.
Fernziel wäre eine Post-Wachstums-Ökonomie, die ein neues Denken über Produzieren und Konsumieren zum Inhalt hat.
Unabhängig von solchen, zum Teil visionär anmutenden Konzepten sollten wir uns ganz allgemein fragen:
Wo wäre das Problem, wenn wir auf etwas verzichteten, von dem wir noch gar nicht wissen, dass es dieses Etwas einmal geben wird? Wer träumte vor dreissig Jahren vom PC oder vom Handy? Haben wir bis vor zwanzig Jahren das Internet vermisst? Vermissen wir heute ein Produkt, eine technologische Innovation, die es erst in zwanzig Jahren geben wird? Und: Dürfen wir weiterhin blind darauf vertrauen, dass Neuerungen stets nützlich für alle und für niemanden schädlich sein werden? Wir sollten darüber nachdenken – nicht nur hier im Hörsaal!!

 

Nora spricht
Ich fühlte mich auf eine entrückte Art ruhig, fast gelassen. Nein, gelassen ist das falsche Wort. In mir war es still, eine Leere, als sei alles Fühlen erloschen. Den Sturm, der jetzt etwas nachzulassen schien, nahm ich kaum mehr wahr. Ich kniete neben Vinzenz, schaute auf seinen schrecklich zugerichteten Körper. Dieser unwiderstehliche Mann – und jetzt so hilflos.
Nur noch ihm nahe sein wollte ich. Ihm wenigstens jetzt etwas von dem geben, wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Ich kauerte mich zu ihm auf den Boden,legte mich neben ihn. Ganz eng. Ein Gefühl des Einsseins mit ihm überkam mich, aber auch der Verlorenheit …
Ich weiss nicht, wie lange ich so gelegen habe. Wald, Bäume, Zweige, Blätter, Laub, Vinzenz, alles um mich herum versank in eine sich verdunkelnde Unbestimmtheit…

Plötzlich sah ich ein Lächeln in seinem Gesicht.
Da bist du ja, sagte er, und lächelte mich an.
Ich dachte schon, ich müsste die ganze Zeit hier alleine verbringen. Rück’ noch ein bisschen näher zu mir. Mir ist kalt. Ich möchte deine Wärme zu spüren.
Das Laub ist weich wie meine Lagerstatt, nicht wahr? fragte er und schaute mich an, als fürchtete er, es könnte mir hier nicht gefallen.
Ja doch, es ist angenehm, stimmte ich ihm zu. Wie fühlst du dich, hast du Schmerzen?
Nicht gerade eine intelligente Frage, muss ich zugeben. Er schwieg eine Weile.
Wie fühlst du dich, fragte er zurück. Ich meine, nachdem du diese unsäglich langweilige Vorlesung hinter dich gebracht hast.
Das nenne ich compliment fishing, rief ich aus. Deine Vorlesung war alles andere als langweilig, glaube mir, niemand hat das so empfunden. Bei uns war heute Morgen der Teufel los. Die sitzen jetzt noch da und diskutieren dein Papier.
Du meinst, es ist etwas rübergekommen? Haben sie die Idee vom Turgoteffekt akzeptieren können?
Vielleicht nicht alle, die meisten sicher. Leider waren deine Pro-Anhänger nicht sehr gut vorbereitet. Sie hatten sich darauf verlassen, dass du …
Okay, unterbrach er mich, sie konnten ja auch mit meiner Unterstützung rechnen, diese Schlitzohren. Das entbindet sie aber nicht … Ja, wirklich dumm, dass ich nicht dabei sein konnte. Ich hatte extra ein Skript ausgearbeitet, das ich verteilen wollte. Die Konsequenzen aus dem Turgoteffekt, verstehst du?
Das Papier mit dem Plateau, meinst du? fragte ich.
Ja, das Papier mit dem Plateau, aber woher weisst du …?
Das hat Siggi in deiner Tasche gefunden und verteilt. Ich habe es nur überfliegen können. Danach bin ich sofort los, um nach dir zu suchen.
Oh, der gute Siggi, auf ihn kann man sich verlassen. Wie gut, dass er daran gedacht hat …
Er hielt inne, schaute starr nach oben. Dann fragte er: Wie fandest du die Idee von dem Plateau, auf das die Volkswirtschaften zusteuern sollten? Statt sich weiter in Wachstumskämpfen zu ergehen und die Erde bis zum geht nicht mehr zu schröpfen.
Er schaute mich gross an, als erwarte er tatsächlich eine Antwort. Merkwürdig, über was man alles reden kann in einer Situation wie dieser, dachte ich. Ob alle Professoren so sind, immer nur ihre Vorlesung im Kopf?
Dass ich das alles sehr theoretisch fand, das konnte ich ihm jetzt nicht sagen. Ob er glaube, hätte ich ihn dann zum Beispiel fragen müssen, dass sich alle sieben Milliarden Menschen auf der Welt auf so ein diffiziles Modell einlassen würden? Ob er wirklich glaube, dass ein sich selbst organisierendes Wirtschaftssystem wie der Markt sich auf derart interventionistische Weise in den Griff bekommen liesse? Ich fürchte, die sieben Milliarden Menschen würden sich stattdessen eher gegenseitig zerrupfen. Aber das konnte ich ihm nun wirklich nicht sagen.

Auf einmal geschah etwas Unglaubliches, ein Wunder. Als seien es Federn drückte Vinzenz die Zweige beiseite und schob mit einem kräftigen Ruck den Baumstamm von sich. Ich staunte. Stark ist er also auch, dachte ich verblüfft.
Dass du noch so viel Kraft hast, sagte ich und strahlte ihn an.
Vinzenz drehte sich zu mir, schlang seine Arme um mich mit einer Leidenschaft, die meine Ängste wie Spreu hinwegfegen liessen.
Ja, ich will mit dir leben, sagte ich, jetzt fest entschlossen.
Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, rief er, alle guten Geister dieses Waldes und du, mein Sturm Kyrill, ihr habt es gehört. Nora liebt mich, sie will mit mir leben. Sie will mit mir gehen.
Er schwieg eine Weile, schaute mich lange an. Aber wohin denn? Wohin sollen wir gehen? Weisst du, wohin? Gleichwie, du sollst es nie bereuen.
Komm Nora, wir wollen aufbrechen, rief er dann mit breitem Lachen. Er erhob sich und streckte mir beide Hände entgegen. Liebste, komm, beginnen wir unser gemeinsames Leben, ich mit dir, du mit mir… In seinen Augen das verführerischste Glitzern, das ich je an ihm gesehen hatte.
Er zog mich hoch und sagte in gespielt feierlichem Ton: Geliebte Nora, lass uns nach Hause gehen und …
Er brach mitten im Satz ab, wirbelte mich übermütig herum und trug mich auf den Armen zurück zu seinem Chalet. So schnell konnte ich gar nicht nicken, wie er mich, seine Lippen an meinem Ohr, fragte: Nora, willst du meine Frau werden?
Ich drückte mich fester an ihn.
War das ein Ja, fragte er?
Ja, ja, ja, rief ich, ja, ich will …

Ein immer lauter werdendes Motorengeräusch schreckte mich hoch. Was ist los? Wieso liege ich hier, wieso liegen wir immer noch unter dem Baum? Vinzenz und ich, wir wollten doch gerade …
Knapp über den Wipfeln schwebte ein Hubschrauber heran, verharrte mit knatternden Rotoren über uns. Durch die Bäume sah ich eine wild gestikulierende Gestalt im Laufschritt auf uns zukommen: Nora, Nora …!
Neben mir lag Vinzenz. Er sah friedlich, beinahe heiter aus, als habe er einen erlösenden Traum gehabt. Über mir das Gedröhne des Hubschraubers, das sich auf disharmonische Weise mit dem Rauschen der windgepeitschten Baumwipfel vermischte.

 

Teil 26 Textbeitrag

Kyrill spricht
Ich bin der Orkan. So mancher hält mich für gottgesandt, ich sagte es schon. Vielleicht ist es wirklich so. Die von Gott gesandte Antwort auf das Tun der Menschen. Ich glaube aber, es ist einfacher, viel einfacher. Alles ist Natur. Wir Orkane sind Natur. Die Bäume sind Natur. Ihr Menschen seid Natur. Und so ist es geschehen: Ohne es zu wollen, ihr habt gerufen, und wir, die Stürme, sind gekommen. Die Gründe aber, weswegen wir gekommen sind und immer wieder kommen werden, die habt ihr geschaffen – und ihr habt sie zu lösen.
Welche Probleme, fragst du? It’s the Economy, stupid, sage ich nur. Schon mal gehört? Natürlich, nun ja, da ging es um etwas anderes. Vielleicht war es auch dasselbe, wer weiss das schon.
Ich rede von eurem homo oeconomicus, von dem ‘nur an sich selbst denkenden, immer auf seinen Vorteil bedachten, gewinn- und nutzenmaximierenden Wirtschaftssubjekt’, wie du ihn beschrieben hast. Diesen von euch geschaffenen, hochegoistischen Erdenbürger mit dem steinernen Herzen und der kühlen Vernunft, den habt ihr nicht umsonst erfunden. Er hat einen Preis: Der homo oeconomicus ist zu erfolgreich geworden!
Wie ein Orkan ist er mit Seinesgleichen über die Erde gefegt. Da könnte man fast neidisch werden. Er ist zu gross und zu stark geworden, hat sich ein Zuviel an Muskeln zugelegt. Wie ein ölglänzender Bodybuilder sitzt er nun auf mater terrae, weiss nicht mehr, wohin mit seiner Kraft und kann vor lauter Dickleibigkeit kaum noch laufen.
Sein Erfolg ist euer Problem!
Lassen wir es gut sein. Aber eines muss ich noch loswerden. Wenn ich euch so agieren sehe, wenn ich sehe, wie ihr einfach keine Einheit werden wollt, eine Einheit, die als entschlossen handelndes Ganzes auftritt, dann ist eine ordentliche Portion Skepsis angebracht.
Auf der einen Seite, denke ich, ihr Menschen habt so Grossartiges geleistet. Nur schon der Gedanke an die Musik lässt mich erschauern. Oder an die Kunst oder an die Wissenschaft. An die Architektur, an die Philosophie, an die Mathematik, überhaupt … Berge an Wissen und Kultur habt ihr aufgeschichtet – ohne Übertreibung eine Welt einmaliger Werke habt ihr geschaffen!
Die Menschen sind klug und weise, denke ich dann – und weitsichtig. Es kann ihnen nicht entgangen sein, was sich da zusammenbraut. Es kann ihnen nicht gleichgültig sein. Sie lieben ihre Kinder. Sie lieben sie mehr als alles andere auf der Welt. Sie lieben sie so sehr, dass sie deren Wohlergehen über ihr eigenes stellen.
Wenn ich mit meinen Überlegungen bis hierhergekommen bin, erfüllt es mich mit Zuversicht.
Auf der anderen Seite, wenn ich sehe, was gegenwärtig in der Welt geschieht, was alles möglich ist an Egoismen, an Begehrlichkeit, an Brutalität, auch an schlichter Gedankenlosigkeit, an Gleichgültigkeit, an Uneinsichtigkeit. Wenn jeder einzelne, wenn jedes Land nur seine eigenen Schäfchen ins Trockene bringen will – ohne daran zu denken, dass die Schäfchen am Schluss mit euch zusammen nass gemacht werden … dann bin ich wieder skeptisch, sehr skeptisch. Dann wird mir angst und bange, um euch, um all das Grossartige, das ihr geschaffen habt.
Und dann wieder sehe ich, wie sich junge Menschen in privaten Organisationen, wie Greenpeace, Robin Wood, Amnesty International und wie sie alle heissen, engagieren für das Wohlergehen unseres einmalig schönen Sonnenplaneten, sich engagieren, eben auch für die Menschen auf ihm, die den Anforderungen des ach so erfolgreichen Ökonomikus nicht gewachsen sind. Und ich sehe, wie sie sich für eine Welt mit Zukunft einsetzen, selbst wenn sie dafür persönliche Nachteile in Kauf nehmen müssen, dann steigt meine Zuversicht wieder, fast ins Unermessliche. Dann bin ich versucht zu sagen, ja, ihr schafft es.
Wenn ich aber auf die vielen Probleme schaue, die ihr euch durch die zahllosen Kollateralschäden eures Lebensstils eingehandelt habt, wenn ich die vielen Missbräuche sehe, die ihr der Natur auf eure eigensüchtige Weise zufügt, befallen mich wieder Zweifel.
Mir ist es ein absolutes Rätsel, wie man den schlimmsten Schädling, den ihr in die Welt gesetzt habt, diesen furchtbaren, furchterregenden Klimawandel, nicht bitter ernst nehmen kann. Keine Sekunde würde ich ihn aus den Augen lassen.
Lieber schiebt ihr alles auf die endlos lange Bank, auf denen dereinst eure Kinder sitzen werden, die dann ihre Kinder vergeblich ins Trockene zu bringen versuchen. Sollen die doch sehen, wie sie damit zurechtkommen.
Wenn ich an diesem Punkt angekommen bin …, dann bin ich nur noch müde, niedergeschlagen, mutlos. Dann komme ich mir vor, wie der Rufer in der Wüste – und leide Durst. So viel Verstand, so viel Intelligenz, so viel Kreativität – und so wenig Vernunft.
Ist das euer letztes Wort?
Ich kann es nicht glauben.

Siggi spricht
Ich hatte meine liebe Not, das nun einsetzende Durcheinander in halbwegs vernünftige Bahnen zu lenken. Einige warfen nur ein paar Brocken in den Raum, andere setzten zu einer längeren Eloge auf ihre Überzeugung an. Und das so ziemlich alle gleichzeitig.
Selbst solche Argumente, die üblicherweise eher am Stammtisch gehandelt werden, blieben nicht aus: Das Klima habe schon immer geschwankt, die Geschichte unseres Planeten sei von Temperaturwechseln geradezu geprägt … Klimaberechnungsmodelle seien viel zu komplex, als dass man ihnen wirklich trauen könne; nur schon das Wetter drei Tage vorherzusagen, sei schwierig genug und wie so oft total falsch … Die globale Erwärmung müsse nicht zwingend mit dem CO2-Ausstoss in Verbindung stehen. Sie könne ebenso gut auf Veränderungen der Sonnenaktivität zurückzuführen sein … Erhöhte CO2-Konzentrationen traten früher nach einer Erwärmung auf. Sie seien also Folge nicht Ursache des Klimawandels… Ohnehin sei der Beitrag des Menschen zum Klimawandel nicht zweifelsfrei bewiesen …
So wogte das eine Zeit lang hin und her.
Interessanter waren die Argumente, die darauf abzielten, das ‘zwei Grad-Ziel’ der aktuellen Umweltpolitik in Frage zu stellen. Eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf maximal zwei Grad sei zwar wünschenswert, hiess es, letztlich aber nicht zu erreichen, zumindest nicht in wenigen Jahren. Wenn man bedenke, dass die klimaschädlichen Gase wie Kohlendioxid, Methan etc. zwanzig Jahre bräuchten, um ‘oben’ anzukommen und dort viele Jahrzehnte herumgeisterten, bis sie wieder abgebaut seien, dann müsse jedem klar sein, dass wir uns zur Zeit mit dem Ausstoss von vor zwei Jahrzehnten herumschlagen. Selbst wenn wir also das Wunder fertig brächten, in kürzester Zeit alles auf null zu fahren, ginge es ‘oben’ noch Jahrzehnte fröhlich weiter.
Ohnehin sei es klüger, nach Alternativen Ausschau zu halten. Zum Beispiel, den Globus abzukühlen, indem man die Sonneneinstrahlung vermindere. Alle Dächer dieser Welt weiss streichen, sei als ernstgemeinter Vorschlag zu hören gewesen. Oder, wie ein bekannter Atmosphärenchemiker vorgeschlagen habe, grosse Mengen Schwefelpartikel per Flugzeug oder Kanonenbeschuss in die Stratosphäre einzubringen, um auf diese Weise einen künstlichen Schirm aufzuspannen, der das Sonnenlicht reflektiere. Das sei längst, so hiess es, Gegenstand einer eigenen Forschungsrichtung, dem ‘Erdsystemmanagement’ geworden. Die würden schon Wege finden …
Im Übrigen müsse man sich auch die Frage stellen, kam es von anderer Seite, warum sich überhaupt gegen eine Erwärmung des Klimas stemmen. Wie wäre es, erst einmal etwas Praktisches auf den Weg zu bringen: Deiche und Dämme bauen, überschwemmungssichere Häuser entwickeln, Menschen umsiedeln, wo es unumgänglich sei…
Ich muss zugeben, die Diskussion war interessant, sie hätte bei Prof Vinz nicht spannender verlaufen können, auch wenn einige Argumente an den Haaren herbeigezogen schienen. Man spürte, das Thema löst Bewegung, sogar Erregung aus.

Mara spricht
Eigentlich wollte ich mich nicht unbedingt dazu äussern, aber so wie die Diskussion lief, fand ich sie nicht sehr befriedigend. Ausserdem hatte ich einen Text vorbereitet, den ich gerne hätte vortragen wollen. Also hob ich brav die Hand, in der Hoffnung, Siggi würde sie übersehen. Es dauerte keine drei Sekunden und ich hatte das Wort. Na gut, dann muss ich halt, dachte ich. Ich glaube, ich bin sogar nach vorne gegangen oder hatte Siggi mich nach vorne gewunken? Zuzutrauen war es ihm. Ich war aufgeregt. Trotzdem legte ich tapfer los, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
Aus all dem, was ich bisher erfahren habe, las ich vor, und ich interessiere mich sehr für diese Thematik, gibt es für mich nur einen Schluss. Die Erde ist ein
organisches System, sie lebt wie ein Organismus. Und sie leidet wie ein Organismus. Jedem der daran zweifelt, rate ich zu der Lektüre von James Lovelocks grandiosem Sachbuch ‘Gaya’. Er belegt naturwissenschaftlich fundiert, warum die Erde ein organisches Ganzes ist und sich erst im Wechselspiel mit der sich allmählich ausbreitenden Natur über Jahrmilliarden zu dem entwickelt hat, was unser Planet heute ist: Einzigartig in allen Teilen aufeinander bezogen, uns Menschen eingeschlossen.
Seine Schlussfolgerung daraus: Der Organismus Erde ist verletzlich, zerbrechlich, man kann ihn falsch und zerstörerisch behandeln! Ich denke, wir alle wissen das. Und ich bin überzeugt, dass der Verlauf der Turgotschen Ertragskurve mit all seinen Konsequenzen nicht nur für die Teile, sondern auch für die Erde als Ganzes gilt. Ob wir uns erst kurz vor dem Maximum oder schon jenseits davon befinden, ist im Grunde unerheblich. Die Schlussfolgerung, ein ‘Entwicklungsplateau ohne Wachstum’ anzustreben, wäre in beiden Fällen die einzig richtige Lösung. Das sehe ich ganz pragmatisch.
Ich bin froh, mit dem Turgoteffekt endlich eine rein ökonomische Begründung für einen Paradigmenwechsel an die Hand zu bekommen, die mich überzeugt. Mit der ich auch andere überzeugen kann. Es tut gut zu wissen, dass man eine Alternative hat, um nicht immer ausschliesslich auf die ökologische Karte setzen zu müssen. Dass man sich und anderen allein schon aus ökonomischer Sicht klarmachen kann, warum wir in Zukunft ein paar Dinge anders angehen müssen, was den Umgang mit unserer Erde anbelangt, befriedigt mich sehr.
Ich machte eine Pause. Ich fürchte sagte ich in die entstandene Stille, ich fürchte, wir werden in den nächsten Jahrzehnten mehr und härtere Veränderungen erleben als jemals in der menschlichen Geschichte zuvor. Ich schaute mich um. Ich sah in aufmerksame Gesichter. Erleichtert setzte ich mich wieder hin.

Siggi spricht
An ein anderes Statement erinnere ich mich auch deswegen noch gut, weil es zu meiner Überraschung von unserem Stillsten kam. Wir nannten ihn nur unser Mauerblümchen. Er sass immer derart unauffällig in eine der hintersten Ecken, dass ich nicht einmal seinen Namen wusste. Und jetzt erinnere ich mich auch nicht mehr daran.
Irgendwann hatte er sich mit fast ängstlichem Gesichtsausdruck gemeldet. Als ich ihm zunickte, stand er auf, nahm ein Blatt Papier in die Hand und las:

Was wir brauchen, sagte er leise, als spreche er zu sich selbst, was wir brauchen, ist eine Ökonomie der Extreme, die untersucht, wie ökonomisch rational oder eben nicht rational sich Menschen in Krisen verhalten, die die eigene Existenz bedrohen.
Er hielt inne, schaute um sich, als wolle er sich versichern, dass man ihm auch zuhöre. Tatsächlich war es ruhiger geworden. Ich glaube, fuhr er fort, sie verhalten sich wie Schwärme: Sie scharen sich zusammen, richten sich nicht mehr nach der Vernunft, sondern folgen nur noch dem Instinkt: Orientiere dich am Nächsten, tue, was dein Nachbar tut. Sie ändern permanent und unberechenbar die Richtung.
Alles, was sie tun, tun sie aus dem Diktat der Irrationalität. Sie klammern sich an alles, was ihnen Rettung aus der extremen Situation verspricht. Sie laufen, wenn alle laufen, sie halten still, wenn alle still halten. Sie ändern die Richtung, wenn alle die Richtung ändern. Damit verstärken sie jeden Trend und machen daraus eine Welle, die ungebremst und unberechenbar in immer andere Richtungen hin und her schwappt.
Er hielt inne, machte eine Geste mit beiden Händen, die seine Aussage unterstreichen sollte.
Die Richtungen ihres Handelns werden unkalkulierbar, fuhr er fort, das Ausmass und die Intensität ihrer Handlungen auch. Sie werden zum logisch nicht mehr fassbaren Wirtschaftssubjekt, das keiner überkommenen Verhaltensregel folgt. Der stets nur seinen Vorteil suchende Homo oeconomicus generiert zum Homo irrationalis, der nicht mehr so sehr seinen Nutzen maximieren will, der nur noch um nichts auf der Welt einen Nachteil in Kauf nehmen will. Er will nicht mehr unbedingt mehr, er will nur das, was er hat, um jeden Preis behalten. Er klammert sich daran, sei es gegen alle Vernunft. Das ist ein völlig neues Verhalten, das man, wie ich meine, unbedingt erforschen sollte.
Sprach’s, legte das Blatt auf den Tisch zurück setzte sich und tat so, als ob nichts gewesen wäre.

Ich war verblüfft. Ich glaube, ein bisschen sprachlos waren wir alle. Niemand hatte ihm ein so durchdachtes Statement zugetraut. Genau wusste ich zwar nicht, was er damit sagen wollte, aber es klang gut.
Und schon ging’s wieder los mit der Diskussion.

Ich wüsste nicht, rief einer von der anderen Seite, ob mir dein irrationaler Homo besser gefallen würde als unser guter alte Ökonomikus …
Darum ginge es ja nicht, unterbrach ihn Mara sofort, er habe ja nur deutlich machen wollen, wie sehr sich Menschen verändern, wenn sie in extrem schwierigen Situationen stecken. Sie veränderten ihr Wesen. Bevor jemand verdurstet, will er um alles in der Welt an einen Schluck Wasser kommen. Er will nicht möglichst viel Wasser, er will Wasser, und das möglichst schnell. Er will um keinen Preis verdursten.
Ist doch klar, oder? Und wenn sie Gefahr liefen zu verdursten, würden viele bereit sein, dafür auch Gewalt anzuwenden, auch zu töten, wenn es hart auf hart komme. Ob uns das gefällt oder nicht, wir sollten das einfach mal zur Kenntnis nehmen, dass die Dinge in Zukunft anderes laufen werden, als wir es bisher gewohnt sind.
Ich finde, da wurde etwas Wichtiges angesprochen, versuchte ich zu vermitteln: die Veränderung und eben auch Zuspitzung der Verhaltensweisen bei Menschen, die irgendwelchen Extremen ausgesetzt sind.

Schon mal was vom ‘Ökologischen Fussabdruck’ gehört? fragte Mara unvermittelt und schaute sich suchend um.
Also gut, muss ja nicht sein.
Es gibt seriöse Berechnungen, die belegen, dass wir schon seit geraumer Zeit mit unserer Erde mehr als liederlich umgehen. Dass wir wortwörtlich auf viel zu grossem Fuss leben und mittlerweile ganz schön auf ihr herumtrampeln.
Der Ökologische Fussabdruck ist ein Mass dafür, ein Mass für die Inanspruchnahme des Ökosystems durch den Menschen. Wie viel Fläche ist notwendig, um den Lebensstandard eines Menschen – unter Einschluss von Bekleidung, Ernährung, Energie, Umweltlast etc. – dauerhaft zu ermöglichen. Danach benötigt die Menschheit derzeit 1,3 Planeten, also dreissig Prozent mehr als uns eigentlich zur Verfügung stehen. Und in zwanzig Jahren braucht sie bereits einen kompletten Planeten zusätzlich.
Das steht jetzt schon fest, wenn wir so weitermachen wie bisher. Und wenn China, Indien und die bevölkerungsreichen Entwicklungsländer, wenn die drei Milliarden Menschen, die Mitte dieses Jahrhunderts auf unserem Planeten zusätzlich behausen werden, nur halbwegs auf den gleichen Lebensstandard kommen wollen, wie wir ihn seit Jahrzehnten geniessen, dann wird das Ganze noch ein bisschen dramatischer aussehen, glaubt mir. Ich denke, das sind Signale, die uns zu denken geben sollten.

Trotzdem, sagte ich und versuchte die Diskussion wieder auf den Pfad der Tugend zurückzulenken, so relevant die Klimadiskussion auch ist, wir dürfen unser eigentliches Thema nicht aus den Augen verlieren. Deswegen zurück zu unserer Kernfrage: Gilt der geschwungene Verlauf des Turgotschen Ertragsgesetzes auch für die Welt als Ganzes.
Oder gilt er für sie nicht? Zunächst einmal, was spricht dafür?
Dieser Teil der Diskussion war schneller abgehakt als gedacht, stellte ich zu meiner Überraschung fest. Theoretisch ja, aber … war der Tenor der überwiegenden Mehrheit. Dass nichts Organisches über alle Massen wachsen könne, darin waren sich alle einig. Irgendwo gebe es immer Grenzen, die eine ununterbrochene Zunahme von was auch immer nicht zuliessen. Bäume wachsen nicht in den Himmel, genau so wenig wie die Muskelberge der Bodybuilder jedes beliebig grosse Hemd sprengen.
Vielleicht wäre ja unser durch Abwesenheit glänzende Mike auch noch auf ein paar gute Ideen mit Kontraeffekt gekommen. Nun ja, er ist nicht da, die Chance hat er verpasst. Meine Unruhe hatte sich in der Folge etwas gelegt, verschwunden war sie nicht. Hatte er nicht geheimnisvoll geraunt, er sei gleich wieder zurück? Das ‘Gleichwiederzurück’ dauerte nun schon über eine Stunde.
Heisser zu ging es sodann um die Frage, wie nahe unsere Welt bereits dem Gipfelpunkt der Ertragskurve gekommen sei oder ob sie ihn womöglich bereits überschritten habe.
Konkret gefragt, rief ich in den Saal: Sind der Klimawandel, ausgelöst durch den Ausstoss von Kohlendioxid und anderen Klimagasen, sowie die weltweiten Probleme, die wir uns mit der Erschöpfung von Energie und Bodenschätzen, der abnehmenden Bodenfruchtbarkeit und der Nahrungsmittelknappheit eingehandelt haben, bereits Folge des ‘zu hoch gestiegen sein’ auf der Ertragskurve? Oder ist das Ganze eine zwar unschöne, letztlich aber doch vorübergehende Erscheinung, die demnächst überwunden sein wird …?
Plötzlich sprang die Tür auf, Mike stand im Eingang, völlig aufgelöst, wie es schien.

 

Teil 27 Textbeitrag  (Schluss)

Siggi spricht (Fortsetzung)
Auf Schlag stoppte die Diskussion, alle Blicke richteten sich auf ihn. Er wirkte aufgelöst, stand nur da, und sagte ganz gegen seine Gewohnheit erst einmal nichts.
Und dann kaum hörbar: Vinzenz ist verunglückt.
Jetzt duzt er ihn auch schon, war mein erster Gedanke, nicht sehr einfühlsam, gebe ich zu.
Vinzenz hatte einen schweren Unfall, hörte ich ihn stammeln. Er wurde von einem umgestürzten Baum getroffen. So wie es aussieht, hat er Glück im Unglück gehabt. Er wird gerade in die Klinik geflogen.
Und schon hatte er kehrtgemacht, den Türgriff in der Hand.
Und Nora, was ist mit Nora? rief ich hinter ihm her.
Sie ist bei ihm, sagte er und schaute mich an, als fände er diese Information schlimmer als die vorherige. Ich bin genauso überrascht wie du, flüsterte er.
Wem sagst du das, wollte ich antworten, aber da war er schon wieder draussen.

Kyrill spricht
Verzeih, meine Kräfte lassen nach. Ich bin müde, es geht auf das Ende zu. Das Ende des Sturms, der als einer der grössten aller Zeiten in die meteorologische Geschichte eingehen wird. Ich kehre heim. Ich kehre heim in die Ruhe des Ausgleichs, in die Gefilde des Nichts. Dahin, woher ich gekommen bin.
Schade, dass wir unseren Dialog beenden müssen. Er war manchmal etwas einseitig, das gebe ich zu. Unsere Gespräche waren dennoch für beide Seiten gut, zu unser beider Nutzen, denke ich.
Aber, wird man dir überhaupt abnehmen, dass du dich mit mir, einem Sturm, unterhalten hast? Wer soll das glauben? Am Ende glaubst du es selber nicht. Du wirst weiterleben und unsere Gespräche werden verblassen und dir zunehmend unwirklich vorkommen. Vielleicht wirst du annehmen, alles sei Traum gewesen. Oder Zwiegespräch mit dir selbst? Das wäre eine gute Deutung. In deiner Lage leidet sich leichter, wenn man jemanden hat, der mit dir empfindet. Einen, der dich versteht, einen, mit dem du dich verstehst. Wer könnt das besser sein als du selbst?
Es wäre sehr zu bedauern, wenn du so denkst. Du würdest mich verleugnen. Obwohl ich nachvollziehen kann, dass du mich als Gesprächspartner nicht anerkennen kannst. Es ist zu ungewöhnlich. Ein Sturm, der spricht, der mit dir diskutiert, das gibt es nicht. So etwas widerspricht allen Regeln der Vernunft. Aus diesem Dilemma kommst du nicht heraus. Du wirst mich als Traum erlebt haben müssen, alles andere wäre irreal. Also gib dem Traum eine Chance. Träume sind wertvoller als die Realitäten. Wer nicht träumt, der erträgt die Realitäten nicht, vor allem nicht die Realitäten, die auf euch in Zukunft warten. Also träume, solange du träumen kannst!
Ach ja, die Kraft der Träume. Wenn sie euch nur erhalten bliebe. Ein wenig erinnert mich das an die dramatischen Ereignisse der in der Tiefe eines Bergwerks eingeschlossenen Minenarbeitern in Chile, die auf so glückliche Weise gerettet wurden. Wahrhaft eine Glanzleistung, die die Welt zu Recht bewegte. Worauf ich hinauswill: Die dreiunddreissig Bergleute hielten ihre schier ausweglose Lage unter anderem deswegen mehr als zwei Monate aus, weil sie einen Traum hatten. Den Traum von der Rettung. Sie glaubten fest daran, dass man sie nicht im Stich lassen werde. Sie wussten, da oben, siebenhundert Meter über ihnen, sind unermüdlich Retter am Werk, die nicht ruhen werden, bis sie befreit sind.
Sie hätten sich zerfleischt, hätte es den Traum, die Hoffnung auf diese Aussicht nicht gegeben.
Für euch, den Erdbewohnern eurer Gegenwart, sieht das anders aus. Da sind keine Retter, irgendwo, weder oben noch unten, noch im Jenseits. Keine hilfreichen Hände, die nichts unversucht lassen werden, euch aus dem selbst verursachten Schlammassel herauszuholen. Ich sage dir: Das Bohrloch zu euch selbst, das Bohrloch, das euch und die kommenden Generationen retten könnte, das müsst ihr eigenhändig selbst bohren. Da ist niemand, der das für euch erledigt. Das wird die grösste Herausforderung, der ihr euch je habt stellen müssen.
Viele glauben, die Zukunft wird’s schon richten, so wie sie es immer gerichtet hat. Dieser Glaube geht an die falsche Adresse. Nicht die Zukunft richtet, es sind die Enkel, die es richten müssen, die Kinder eurer Kinder und deren Kinder.
Eines ist klar, eure globalisierte Welt ist in sich geschlossen, sie hat keine Ausdehnungsmöglichkeiten mehr, weil… es gibt kein Aussen mehr.
Da warten nicht die asiatischen Weiten, nicht der Wilde Westen, nicht eine terra australis, nicht ein unerforschtes Afrika auf die besitzergreifenden Pioniere, die sie unter den Pflug nehmen können. Wachstum durch Eroberung, das hat lange funktioniert. Das ist vorbei. Von nun an ist alles ein Nullsummenspiel. Was der eine nimmt, muss der andere geben.
Da ist nur noch eine einzige Öffnung: die Zukunft. Die Zukunft, das aber ist die Welt der Enkel, nicht eure. Wollt ihr eure Probleme tatsächlich dahinein verschieben, um sie auf der langen Bank, auf der die Kommenden einmal sitzen werden, abzulagern? ‘In the long run we are all dead’, Keynes’ berühmter Spruch ist richtig – und falsch zugleich. Ihr werdet sterben, aber die Enkel, die werden leben – leben wollen.

Wenn ich all diese Dinge recht überlege, sie gegeneinander abwäge und mich frage, was ist realistisch, was nicht, dann übermannt mich Resignation. Dann bin ich versucht zu sagen: Es gibt nur noch eine einzige, wenn auch äusserst vage Hoffnung, die, wenn sie sich erfüllt, alle Probleme obsolet machen würde: die Hoffnung auf den ganz grossen Irrtum! Dass sich die Klimafrage irgendwann als eine einzige riesige Fehlinterpretation herausstellt, weil die gesamte Wissenschaftsgemeinde in noch nie da gewesener Blindheit etwas übersehen hat, etwas Entscheidendes, eine Stellschraube, an der sich noch drehen lässt, oder ein noch nicht entdeckter meteorologischer Rückkoppelungsmechanismus, der plötzlich aktiv wird und alles noch einmal gut sein lässt.
Aber, sag ehrlich, ist das realistisch?
Und jetzt auch noch dein Turgoteffekt, der allen klar machen müsste, dass da kein Raum mehr ist für noch mehr Himmelsstürmerei. Die Erfolgskurve neigt sich dem Höhepunkt – und damit dem Ende zu.
Entschuldige, das klingt alles nicht sehr erbaulich, von zuversichtlich gar nicht zu reden. So will ich nicht enden. Es gibt immer eine Perspektive – wenn man nur will, wenn man wirklich will.

Ein letzter Rat sei mir daher erlaubt:
Wenn euch etwas an diesem wunderbaren Acker liegt, wenn ihr wollt, dass auch eure Kinder und deren Kinder und Kindeskinder auf ihm arbeiten und von ihm leben können, dann gebt dem Phänomen Konkurrenz, dem ihr all eure Erfolge und diesen immensen Wohlstand zu verdanken habt, gebt ihm einen neuen Sinn: Nicht mehr nur der kämpferische Wettstreit, auf Biegen und Brechen der Erste und Beste sein zu wollen, sondern der auf Ausgleich bedachte Wettbewerb um das Bestmögliche, was in der Welt der Menschen zu erringen ist: Kooperation! Gemeinschaftlichkeit! Schliesst euch zusammen, bündelt eure Kräfte. Bündelt sie zu einer einzigen, weltumspannenden Kraft, die die Fruchtbarkeit des Ackers auch für die Zukunft sicherstellt.
Um es auf den Punkt zu bringen: Bisher diente die Kooperation der Konkurrenz, um sie zu noch mehr Erfolg zu führen. Man tat sich zusammen, um gemeinsam stärker und erfolgreicher zu sein als alle anderen. Schluss damit! In Zukunft diene die Konkurrenz der Kooperation. Man tue sich zusammen und nutze die eminenten Kräfte des Wettbewerbs so, dass sie dem Wohle aller, dem Wohle des Ganzen zugutekommen.
Ich bin Realist genug, um mir klar zu machen, dass das nicht von heute auf morgen und schon gar nicht einfach so geht. Ein solche hehres Ansinnen, kann nur mit einem radikalen, weltumspannenden Bewusstseinswandel gelingen.
Lass es mich mit einem Bild veranschaulichen, das euch vertraut sein dürfte. Was ihr braucht, mehr als dringend braucht, ist eine Diktatur. Wie bei den alten Römern, bevor sie zur Grossmacht wurden. In der Krise wählten sie einen der Ihren zum Diktator, den sie mit unbegrenzter Machtbefugnis ausstatteten. Allerdings nur für ein halbes Jahr. Dann gab er Amt und Macht zurück, ging auf seinen Hof und bestellte wie zuvor sein Feld.
So etwas bräuchtet auch ihr. Eine Diktatur, die euch unmissverständlich sagt, was ihr zu tun habt. Der ihr euch unterwerft, ohne euch unterworfen zu fühlen. Der ihr Folge leistet, uneingeschränkt und uneigennützig.
Die Diktatur, sie hat auch einen Namen. Du kennst sie gut, aber wie selten kommt sie bei euch zum Zuge – auch bei dir.

Die Diktatur heisst Einsicht.

Die Einsicht eines jeden Einzelnen und aller Menschen zusammen.
Einsicht ist die mächtigste Kraft, die Kraft aller Kräfte, die in der Lage ist, sich selbst Übermenschliches abzufordern, wenn sie der eigenen Überzeugung entspringt …

 

Epilog
Im Grunde war die hier beschriebene Zeit für alle Beteiligten eine ereignisreiche, wenn auch vergleichsweise sorglose Zeit. Bis zu jenem Tag, an dem Sturm Kyrill der Sorglosigkeit ein Ende setzte.
Danach war die Welt eine andere. Unsere Protagonisten trafen sich kaum noch, jeder machte für sich allein weiter. Die Zeit des Lernens, Diskutierens und gemeinsamen Erlebens war vorbei. Sie sahen sich nur noch selten.
Allein Mara und Mike kamen sich näher. Nach dem Studium heirateten sie. Nora schloss ihr Studium mit Erfolg ab und ging ins Ausland. Siggi brauchte etwas länger. Wiedergesehen haben sie sich nicht.
Prof Vinz, der allseits wohl gelittene Professor Accola, hatte tatsächlich Glück gehabt. Er überlebte den Unfall. Seine rechte Hand musste amputiert werden. Das sei nicht so schlimm, sagte er zu Siggi, als dieser ihn in der Klinik besuchte. Er sei ohnehin Linkshänder, schreiben könne er ja noch.
Schreiben, das tat er dann auch. Sein Buch ‘Ökonomie der Extreme – Wirtschaften unter grenzüberschreitenden Bedingungen’ wurde ein Erfolg.
Wie zur Bestätigung seiner Thesen verschärfte sich die Radikalisierung des Klimas. Extreme Wetterereignisse mit den durch sie ausgelösten natürlichen und technischen Katastrophen reihten sich wie die Perlen auf einer Gebetsschnur: Die heissesten und kühlsten Sommer, die kältesten und mildesten Winter. Gletscher und Polkappen schmolzen schneller als erwartet. Der auftauender Permafrost Sibiriens und anderer Regionen setzte vermehrt Methan frei, was den Treibhauseffekt zusätzlich verstärkte.

Hurrikane nie gekannten Ausmasses durchpflügten die Ozeane und verwüsteten die Küstenregionen weiter Teile Südostasiens und anderer tiefliegender Regionen. Überschwemmungen und Dürren verschlimmerten die Nahrungsmittelknappheit, Hungeraufstände in der Folge …
Die Weltbevölkerung wuchs weiter, jeden Tag kamen zweihunderttausend Menschen hinzu, überwiegend in den armen und ärmsten Ländern. Flüchtlingswellen aus Afrika und Asien lösten Grenzkonflikte aus, die die EU und USA unter Druck setzten. Ganze Staaten gerieten an den Rand der Unregierbarkeit.
Immer mehr Menschen sahen sich nicht mehr in der Lage, die auf sie zukommenden Probleme seelisch zu verkraften. Sie wandten sich innerlich ab oder verstummten resigniert. Andere fühlten sich in einer Weise betroffen, dass sie glaubten, nicht mehr glücklich sein zu können, während so viele Menschen auf der Welt im Leid versinken. Die Selbstmordrate stieg bedrohlich an.
Währenddessen steigerten sich Politik und Wirtschaft in eine kollektive Wachstumseuphorie, die alles Bisherige in den Schatten stellte. In der durch nichts zu erschütternden Überzeugung, nur mit ‘XXL-Wachstum’ liessen sich die sozialen und ökologischen Probleme der Welt in den Griff bekommen, wurden neue Anreizprogramme zur Wachstumsbeschleunigung aufgelegt, die die Verschuldung der öffentlichen Haushalte ins Gigantische anschwellen liessen. Die USA kämpften mit zunehmender Arbeitslosigkeit und sozialen Unruhen, China lief Gefahr, am wirtschaftlichen Erfolg und den ökosozialen Folgen des Wachstums zu ersticken …
Dennoch, Prof Accola traf mit seiner Veröffentlichung einen Nerv. Bei immer mehr Menschen setzte sich unter dem Eindruck seiner Thesen die Einsicht durch, dass ein ‘Immer weiter so: die Zukunft ist wie heute, nur besser’ nicht der zielführende Weg aus der Misere sein konnte. Sein Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und rangierte lange Zeit auf Platz eins der Bestsellerlisten, selbst in den Vereinigten Staaten, wo es am wenigsten zu erwarten war.
Mit ihm kam die Wende.
Aber das, so ist zu befürchten, war alles nur erträumt…

 

 

Nachtrag und Dank!

Seit meinem Studium vor fünfundvierzig Jahren beschäftigt mich die Frage (die während des Studiums tatsächlich nie eine Rolle spielte), welche reale Bedeutung der Verlauf des Ertragsgesetzes für wirtschaftliche Organe/Organisationen haben könnte, vor allem dann, wenn man sich dem Maximalpunkt nähert oder ihn bereits überschritten hat.
Handelt es sich um ein Unternehmen, ist klar: Es geht bankrott. Aber was ist mit einer Volkswirtschaft – oder mit der Welt als Ganzes, wenn man auch sie als organische Einheit sieht? Eine verbindliche Antwort gibt es natürlich nicht. Aber es gibt Parallelen, Ähnlichkeiten zwischen dem, was zur Zeit an Zuspitzung, Verdichtung und Beschleunigung in der Welt geschieht, und dem, was in Zusammenhang mit dem Maximum des ertragsgesetzlichen Kurvenverlaufs eine Rolle spielt.
Ich habe versucht, den handelnden Personen eine möglichst breites Argumentationsspektrum an in den Mund zu legen. Der Leser/Zuhörer möge sich sein eigenes Urteil bilden, auch wenn klar geworden sein dürfte, wohin meiner Ansicht nach die Reise geht.
Ich freue mich, wenn das Videoprojekt zu neuen Erkenntnissen geführt hat. Noch grössere Freude hätte ich, wenn sich eine Diskussion anstossen liesse, die sich weiter verbreitet. Ein jeder kann dazu beitragen. Er braucht nur die Botschaft, sprich den Hinweis auf meine Homepage (www.hartmut-stieger.ch), mit einem Mausklick an so viele Adressaten wie möglich weiterzuleiten.
Ein besonderer Dank geht an Johannes Brunnengräber, Sohn meines früheren Berufskollegen Dr. Richard Brunnengräber. Johannes war mir in allen Phasen der Entstehung des Videoprojekts eine unersetzliche Hilfe.
Man bedenke: Bis zum vorigen November hatte ich nicht die geringste Ahnung vom Videoaufnehmen mit Camcorder, vom Hochladen auf YouTube, vom Handling einer Homepage, ganz zu schweigen von der Frage, wie man das eine mit dem anderen verbindet. Dass ich das jetzt einigermassen hinbekomme, verdanke ich ausschliesslich ihm – eine nicht zuletzt auch menschlich pädagogische Leistung, für die ich mich nochmals herzlich bedanken möchte: Merci Johannes!!
Meinen ganz persönlichen Dank richte ich an Marlies, meine Frau, und an Rolf, meinen Sohn in Hamburg. Beide haben sich nicht nur gleich mehrmals durch das Manuskript gearbeitet und mir wichtige Hinweise zukommen lassen, sie haben mir immer wieder bedeutet, dass der Text, der ja in mancherlei Hinsicht ungewöhnlich ist, etwas taugt und dass ich das Videoprojekt unbedingt verwirklichen soll. Ohne ihre stete Aufmunterung hätte ich wahrscheinlich nicht den Mut und auch nicht die Ausdauer dazu aufgebracht.
Des weiteren danke ich meinem Freund Werner Ronner, der sich mit unermüdlich akribischer Hingabe auf die Suche nach Fehlern und sprachlichen Ungenauigkeiten gemacht und dem Ganzen erst den richtigen Schliff verpasst hat. Dank geht auch an Sohn Daniel, der sich vor allem um die nicht immer ganz einfachen logischen Zusammenhänge gekümmert hat.
Wertvolle Hinweise verdanke ich der Korrekturlesung meines ehemaligen Studienkollegen Dr. Gerhard Vogl und – last not least – meines Freundes und ehemaligen Chefs, seinerzeit Präsident der Justus-Liebig-Universität Giessen, Prof. Dr. Heinz Bauer.

Denjenigen, denen der Inhalt des Buches etwas pessimistisch vorkommt, möchte ich ein Zitat entgegenhalten, das meine innere Einstellung treffend widerspiegelt:

‘So lange der Ausgang einer gefährlichen Sache nur noch zweifelhaft ist, so lange nur noch die Möglichkeit, dass er ein glücklicher werde, vorhanden ist, darf kein Zagen gedacht werden, sondern bloss an Widerstand; wie man am Wetter nicht verzweifeln darf, so lange noch ein blauer Fleck am Himmel ist.’
Arthur Schopenhauer

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